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Ärzte als Detektive: Quecksilber-Intoxikation durch Naturheilmittel

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das Ärzteportal Coliquio liefert uns ab und an gekniffelte Kasuistiken aus der Küche von “Dr. House”.
 
Der aktuelle Fall einer vertrackten Quecksilbervergiftung durch Naturheilmittel von November 2016 passt wunderbar in meine Amalgam-Sammlung und zeigt die Herausforderung, die wir mit Intoxikationen erleben.
 
Herzlichen Dank an Coliquio.de für diese sehr instruktive Kasuistik, an der sich wohl die allermeisten Kollegen die Zähne ausgebissen hätten. Respekt und Gratulation an die beteiligten Kollegen dies gefunden zu haben!
 
Für Coliquio möchte ich gerne als Dank für die Möglichkeit diese faszinierende Kasuistik zu zeigen noch folgenden Schlüsselsatz posten: „Medizin. Einfach wissen. – coliquio bietet medizinische Nachrichten, praktisches Wissen und aktiven Austausch mit 150.000 Kollegen. Schnell, einfach und umfassend. Für Ärzte dauerhaft kostenlos.“
 
Der Orginale Fall wurde Publiziert in der 
 
wird hier – bis auf Widerspruch durch Autor / Zeitschrift / Coliquio.de für Intoxikations-Interessierte Kollegen gepostet.
 

Ärzte bei der Detektivarbeit

Symptome passen zu keinem Krankheitsbild

Verlust psychomotorischer Fähigkeiten, Hyperhidrose, Unruhe – mit diesen Symptomen wird der 2,5-jährige Joshua K. von seinen Eltern in einer Hamburger Klinik vorgestellt. Durch ständiges unwillkürliches Kratzen und Beißen hat er sich bereits tiefe Ulzerationen an Händen und Füßen zugezogen. Erfahren Sie hier, zu welcher erstaunlichen Diagnose Ihre Hamburger Kollegen kamen und warum Detektivarbeit von den behandelnden Ärzten bei diesem Fall besonders gefordert war.

Dieser Beitrag basiert auf einer Falldarstellung aus der Monatsschrift Kinderheilkunde 2015, 163: 570–574. Marina Urbanietz, coliquio-Redaktion, hat die wichtigsten Fakten hier für Sie zusammengefasst.

Exotische Krankheit? Wechselwirkungen mit Antihypertensiva?

Joshua K. ist das erste Kind gesunder Eltern philippinischer Herkunft. Zwei Monate vor dem aktuellen Ereignis wurde bei dem Jungen eine als renoparenchymatös eingestufte arterielle Hypertonie diagnostiziert, welche mit Ramipril, Amlodipin und Metoprolol behandelt wurde. Zum Zeitpunkt der Vorstellung an der Klinik wurde der 2,5-Jährige noch teilgestillt.

2,5-Jähriger spricht nicht & kann nicht laufen: Psychosomatische Hintergründe?

Der Verlust psychomotorischer Fähigkeiten war für die Eltern der entscheidende Faktor, um einen Arzt aufzusuchen: Innerhalb von zwei Wochen habe Joshua K. die bereits erworbene Sprache sowie das Interesse an seiner Umgebung verloren. Unruhezustände träten abwechselnd mit Apathie auf. Außerdem habe der Patient in der vergangenen Woche sechs Milchzähne verloren.

Die klinische Untersuchung bestätigte die Angaben der Eltern: Der Patient war kaum responsiv, sprach nicht und konnte nicht laufen. Im Unterkiefer fehlten sechs vordere Zähne, das Zahnfleisch wies blutende Läsionen mit teilweise sichtbaren Knochen auf. An den Fingern fand sich eine groblamelläre Schuppung und die Zehen wiesen schwere Ulzerationen auf. Außer einer erhöhten Körpertemperatur (38,3 °C) und erhöhtem Blutdruck (127/53 mmHg) war die übrige körperliche Untersuchung jedoch unauffällig.

Bildgebende Untersuchungen: Keine besonderen Auffälligkeiten

  • Magnetresonanztomogramm (MRT) des Kopfes: Zeichen einer globalen Hirnvolumenminderung, sonst keine weiteren Auffälligkeiten
  • Elektroenzephalogramm (EEG): strukturarme, für das Alter des Patienten etwas langsame Aktivität, jedoch keine Anfallsbereitschaft
  • Nervenleitgeschwindigkeit (NLG): keine auffälligen Befunde
  • Somatosensibel-evozierte Potenziale (SEP): unauffällig

Labor zeigt deutlich erhöhte Entzündungsparameter

Laborchemisch fielen erhöhte Entzündungsparameter auf: Leukozytose 21 Mrd/l mit Neutropenie, C-reaktives Protein (CRP) 260 mg/l, Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit (BSG) 77 mm/h. Mandibulär wurde klinisch und histologisch eine Osteomyelitis mit Nachweis von Aktinomyzeten bestätigt. An den Zehen wurden Staphylococcus aureus und Pseudomonas aeruginosa nachgewiesen.

Die übrige, sehr ausführliche metabolische, infektiologische und autoimmunologische Labordiagnostik ergab keine auffälligen Befunde.

Weitere Untersuchungen: Alle Differenzialdiagnosen erscheinen unwahrscheinlich

Differenzialdiagnostisch dachten die behandelnden Ärzte an eine Reihe von Ursachen, welche jedoch durch weitere Untersuchungen nicht bewiesen werden konnten:

  • Arzneimittelreaktion auf Antihypertensiva: Es wurde ein Auslassversuch durchgeführt, der jedoch keine Besserung ergab.
  • Lesch-Nyhan-Syndrom: Eine Untersuchung des Gens für die Hypoxanthin-Phosphoribosyl-Transferase 1 (HPRT1) war unauffällig.
  • Hereditäre sensorisch-autonome Neuropathie (HSAN Typ II, IV oder V); Vaskulitis; Neuroblastom oder Phäochromozytom: Keine Hinweise nach der appartiven und Labordiagnostik.
  • Intoxikation: In Blut und Urin zeigten sich unauffällige Bleikonzentrationen

Ärzte mit überraschendem Verdacht – wie lautet Ihre Diagnose?

Nach Reevaluation der klinischen Befunde sowie einer Literaturrecherche haben die Ärzte einen überraschenden Verdacht: chronische Quecksilberintoxikation! Doch wie sollte es bei einem 2,5-Jährigen zu einer Quecksilberintoxikation kommen? Schreiben Sie uns jetzt Ihren Kommentar und erfahren Sie die Antwort in der Fallauflösung.

Bei Verdacht auf eine Quecksilberintoxikation wurde eine Therapie mit dem Chelatbildner Dimercaptopropansulfonsäure begonnen (DMPS; Aufdosierung mit 20, dann 10 mg/kg Tag p.o.). Initial kam es zu einem Anstieg der Quecksilberausscheidung in den Urin und die Blutwerte fielen entsprechend ab. Somit konnte die Diagnose Quecksilberintoxikation schließlich gesichert werden.

Woher kam nun die Quecksilberintoxikation?

Für eine Quecksilberexposition sind unterschiedliche Quellen beschrieben: Industriell findet sich Quecksilber unter anderem in Energiesparlampen, im medizinischen Bereich in Thermometern und Manometern. Weniger bekannt ist allerdings, dass auch einigeayurvedische und traditionelle alternative Heilmittelzubereitungen Quecksilber in hohen Konzentrationen enthalten. Aber die Eltern des 2,5-Jährigen verneinten die Anwendung jeglicher alternativen Medikamente.

Erst nach wiederholter Anamnesebefragung gab die Mutter an, dass sie eine auf den Philippinen selbst hergestellte Bleichcreme in Gesicht und Dekolleté anwendete. Die Creme erwies sich mit 829 μg/g als stark quecksilberhaltig! Der 2,5-Jährige sei allerdings damit nie eingecremt worden. Dennoch konnte die Intoxikation durch direkten Hautkontakt sowie Muttermilch (17 μg/l) erfolgen. Blut (25 μg/l), Urin (247 μg/l) und Haarproben (2,9 μg/l) der klinisch unauffälligen Mutter wiesen tatsächlich erhöhte Quecksilberkonzentrationen auf.

Quecksilberintoxikation: Summe der Symptome ergibt Diagnose

Retrospektiv gesehen, zeigte der Patient bereits bei der Krankenhausaufnahme die klassischen Symptome einer chronischen Quecksilberintoxikation:

  • Auffälligkeiten an Extremitäten (pinkfarbenes Erythem, randständige groblamelläre Schuppung, ausgeprägter Juckreiz, Schmerzen, Parästhesien, Automutilationen)
  • Zahnverlust
  • Neurologische Symptome (Wesensveränderung, Apathie, Irritabilität, Entwicklungsrückschritte)
  • Arterielle Hypertension: Im vorliegenden Fall wurde diese initial als renoparenchymatös bedingt fehlinterpretiert und ist am ehesten einer quecksilberbedingten Hemmung des Katecholaminabbaus zuzuschreiben.

Fazit für die Praxis: Bei Auftreten von einem oder mehreren dieser Symptome sollte immer auch an eine Quecksilberintoxikation gedacht werden.

Patienten auch auf Kosmetika gezielt ansprechen: Auch wenn Patienten oder Angehörige die Einnahme von Medikamenten verneinen, sollten sie gezielt auf Kosmetika wie Bleichcremes oder alternative Heilmittelzubereitungen angesprochen werden.

Ein Jahr danach: So ging es mit dem Patienten weiter

Die DMPS-Therapie wurde für sechs weitere Monate fortgesetzt. Die Hyperhidrose verschwand rasch, der Juckreiz an Händen und Füßen hielt allerdings zunächst an. Die antihypertensive Medikation konnte bei nach und nach normalisierten Blutdruckwerten innerhalb von zwölf Monaten abgesetzt werden. Parallel zur medikamentösen Behandlung erfolgte eine chirurgische Wundversorgung der Füße und Hände.

Ein Jahr nach der Diagnosestellung zeigte sich der Junge altersgerecht entwickelt, in gutem Allgemeinzustand und mit normalen Körpermaßen sowie mit normalen Blutdruckwerten ohne Medikation.

Hermann K. et al., Monatsschrift Kinderheilkunde 6/2015, 163: 570–574. Spezifische Symptomkombination der chronischen Quecksilberintoxikation: Arterielle Hypertension, Entwicklungsregression und Automutilation.

 

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