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Rajan Sankaran und die Situational Materia Medica – eine Einführung, Teil 2 AHZ 239 4/94 147

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Rajan Sankaran und die Situational Materia Medica – eine Einführung, Teil 2 AHZ 239 4/94 147

 


 

Rajan Sankaran und die Situational Materia Medica    eine Einführung

Teil II       H. Retzek

 

publiziert: Rajan Sankaran und die Situational Materia Medica – eine Einführung, Teil 2; AHZ; 239; 4/94; 147

 

In der vorliegenden Artikelserie wird versucht, ein kürzlich entwickeltes theoretisch-philosophisches Konzept des Krankheits & Arzneimittelverständnisses, die Situational Materia Medica (SMM), wie sie von Rajan Sankaran formuliert wurde, transparent zu machen.

Im ersten Teil wurde der Begriff der zentralen Störung definiert, der hier erweitert und verdeutlicht werden soll. Grundlagen zur Dynamik der Krankheit und der Behandlung werden angesprochen. Schließlich werden Hahnemanns Aussagen zu diesem Thema zitiert.

 

Schlüsselwörter

Hahnemann, Sankaran, Dynamik, Lebenskraft, Pathologie, Situational Materia Medica,

 


In the following series of articles I will try to provide some insights into the Situational Materia Medica (SMM), a theoretical-philosophical concept of understanding disease & remedies, as was developed recently by Rajan Sankaran.

In the first part we defined the term central disturbance which will be deepend and extended now. The dynamic of disease and treatment is discussed. Finally, Hahnemanns writings regarding this issue are examined

 

 

Keywords

Hahnemann, Sankaran, dynamic, vital force, pathology, situational materia medica

 


 

 

Im ersten Teil wurde gezeigt, daß eine Störung des Organismus sich zuerst und vor allem auf der Ebene der Psyche (P) und deren drei Effektorsysteme (Vegetativum (N), hormonelle Regulierung (E) und Immunsystem (I), kurz PNEI-Achse [1] ) manifestiert. Eine dysfunktionale PNEI-Achse wurde zentrale Störung genannt.

In Arzneimittelprüfungen können Charakteristika der dysfunktionalen PNEI-Achse verläßlich und reproduzierbar beobachtet werden, während lokale Symptome vorallem von den pathologischen Krankheits-Neigungen der Prüfer abhängen.

Letztendlich würde daher bei “vollständiger Prüfung” eines Arzneistoffes jedes Mittel in jeder Lokal-Rubrik stehen, dabei jedoch kaum neue PNEI-Rubriken erhalten, da diese in jedem empfindlichen Prüfer gleichartig sind und daher bereits bei kleiner Prüferzahl relativ vollständig erhoben werden können. Daher soll sich die Mittelwahl vorranging auf Symptome der zentralen Störung berufen.

 

Dr. Sankaran faßt im folgenden Aussagen aus den Schriften Hahnemanns und der großen Meister zu den Themen Lebenskraft, Krankheit und deren Behandlung zusammen, die aufgrund ihrer Prägnanz  und Bedeutung zum Verständnis der Situational Materia Medica (in gekürzter Form) zitiert werden sollen:

 

Zur Dynamik der Krankheit – das Konzept der “Lebenskraft” ( 5 , S. 52)

1.    Die Lebenskraft versucht den Menschen im Zustand der Gesundheit zu erhalten.

2.    Wird der Körper attackiert (z.B. durch Infektion, Vergiftung …) kommt es zu einer initialen allgemeinen Reaktion, einer funktionellen Störung des gesamten Körpers (Fieber, Schwäche, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit …), abhängig vom Krankheitsauslöser. Dies zeigt eine funktionelle Störung des PNEI-Systems an, welches als erstes erfaßt wird.

3.    Die Lebenskraft versucht die Störung so lange wie möglich auf der allgemeinen Ebene zu halten, um keine pathologischen Veränderungen in den Organ-Systemen zuzulassen.

4.    Ist die Störung zu intensiv, um vom gesamten System ertragen zu werden (z.B. Fieber zu hoch), kommt es auch zur lokalen Wirkung an Organen.

5.    Die Grenze zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist vom physischen Zustand des Patienten abhängig: Kinder haben sehr starke Organe, die leicht auch einen hohen Grad an funktioneller Störung ertragen können (z.B. das Herz kann noch hohes Fieber tolerieren). Daher finden wir hier ausgeprägte allgemeine Störungen mit nur sehr geringer Pathologie. Daher kann man die besten Gemüts und Allgemein-Symptome bei Kindern beobachten. Der Organismus alter Menschen hingegen erträgt weniger an Störungen, weshalb bei nur geringen Gemüts-/Allgemein-Symptomen schon ausgeprägte pathologische Veränderungen zu finden sind..

6.    Eine starke Störung kann für kurze Zeit auf zentraler Ebene ertragen werden. Danach wird sie lokalisiert,

7.    und zwar zuerst an den am wenigsten wichtigen Organbereiche des Körpers.

8.    Trotzdem versucht die Lebenskraft, die entstandene lokale Pathologie so gering als möglich zu halten.

9.     Anschließend wird die zentrale Störung verringert, da sie in die Peripherie abgeleitet werden konnte.

10.   Die Stärke der Gesamtkrankheit ergibt sich daher aus der Summe der Störungen im Zentrum und in der Peripherie (funktioneller wie pathologischer Art).

11.   Ist die Störung zu stark, die Toleranzgrenze des Körpers zu gering oder wird die Störung von einem lokalen Teil supprimiert, so erlaubt die Lebenskraft – nur in diesen 3 Fällen – daß die Störung auf vitalere Organe übergreift.

12.   Welcher Teil affiziert wird, wird i) durch die “Bereitschaft” der Störung und ii) die angeborene oder erworbene Organminderwertigkeit bestimmt.

13.   Sogar abgeleitet als “lokale Störung” wird sich die zentrale Störung durch ihre Eigenheiten charakteristisch zeigen.

14.   Bei fortgesetzter Störung wird auch die PNEI-Achse erfaßt, jetzt aber nicht mehr funktionell sondern durch echte pathologische Manifestation.

15.   Die Ebene der Auseinandersetzung zwischen Störung und Lebenskraft gibt Hinweise auf die Stärke und Vitalität des Organismus. Eine starke zentrale Störung mit geringer Pathologie zeigt hohe Vitalität. Ernste Pathologie mit geringer zentraler Störung hat eine wesentlich schlechtere Prognose.

16.   Daher gibt es a) zentrale oder allgemeine Erkrankungen  und b) periphere oder lokale Erkrankungen.

17.   Unter zentraler Störung verstehen wir Veränderungen in der Funktion des PNEI-Systems. Sie äußert sich in Gemüts- und Allgemein-Symptomen und spezifischen lokalen Veränderungen.

18.     Pathognomonische Symptome geben keinen Hinweis auf die zentrale Störung.

19.   Da die zentrale Störung zum Schutz des Organismus durch die Lebenskraft in die Peripherie abgeleitet wird, geben lokale Symptome, insbesondere die Modalitäten und nicht-pathognomonischen Symptome, Hinweise auf die zentralen Störung

20.   Krankheit ist nicht eine eigene Entität, sondern eine Störung der Lebenskraft, deren Funktion die Gesunderhaltung des Körpers ist. Wenn wir sagen, daß die Lebenskraft die Krankheit in die unwichtigsten Teile des Organismus leitet, meinen wir eigentlich, daß die Lebenskraft zu verhindern versucht, daß durch ihre eigene Störung vitale Organe affiziert werden.

Zur Dynamik in der Behandlung  ( 5 , S. 56)

1.    Eine Arznei, die der zentrale Störung entspricht, wird die lokale Pathologie heilen (da diese nur lokalisierte zentrale Störung ist).

2.    Ein Mittel, daß nur die Lokalsymptome berücksichtigt, kann nur für einige Zeit erleichtern.

3.    Da die lokale Pathologie als Ventil der zentralen Störung anzusehen ist, wird Unterdrückung die Störung ins Zentrum zurückstoßen und die Lebenskraft schwächen. Diese SUPRESSION kann auch homöopathisch erfolgen, wenn die Arznei nur nach lokalen Symptomen gewählt wurde und nicht der zentralen Störung entspricht.

4.    Daraus ergibt sich: wenn wir die zentrale Störung behandeln, wird die Lebenskraft den Organismus heilen. Krankheit ist Störung im Zentrum und unsere Mittel sollten immer auf das Zentrum gerichtet sein. Eine verletzte Person mit lokalen Arnika-Symptomen benötigt kein Arnika, da die Lebenskraft mit dieser Störung alleine fertig wird, bis die zentralen Symptome ebenfalls Arnika indizieren [2] .

 

Ob akute oder chronische Störung – nur eine Veränderung im Zentrum indiziert ein anderes Mittel. Wenn ein chronisch kranker Patient unter Pulsatilla Gelbsucht entwickelt, so müssen wir die Symptome überprüfen. Zeigt er den ursprünglichen Gemütszustand, dieselben Allgemeinsymptome und Modalitäten wie vor der Gelbsucht, ist das Mittel weiterhin angezeigt. Es kann aber auch sein, daß der Patient während der Gelbsucht ein verändertes Appetit-, Durst-, Modalitäten-, usw. Verhalten entwickelt. Nur dann ist ein Wechsel der Verschreibung angezeigt.

Die Indikation für einen Wechsel des Mittels ist ein Wechsel der Indikation

“Die Pathologie wächst an der zentralen Störung wie der Efeu an einem Stock. Was wir tun müssen, ist die zentrale Störung zu entfernen.” ( 5 , S.5).

Zur Natur der Pathologie

Wenn also die zentrale Störung die Fähigkeiten des Organismus, sie auf allgemeiner, funktioneller Ebene (Fieber, Schwäche, Appetitlosigkeit, Reizbarkeit …) zu ertragen, überschreitet, dann kommt es zur Lokalisierung und einer Pathologie, deren Natur abhängt von ( 5 , S. 70):

1.    der Natur der Störung:     Belladonna wird Appendizitis den Warzen bevorzugen, da es hier seine Charakteristik deutlicher zeigen kann, Colocynthis affiziert natürlich eher den Darm als einen Schnupfen hervorzurufen, da seiner Natur die Spastik und Kolik entspricht.

2.     Angeborenen oder erworbenen Krankheitsbereitschaften für eine spezielle Pathologie:

       die Aesculus Störung führt zu venösen Stauungen und wird typischerweise Hämorrhoiden verursachen. Wenn aber ein Individuum ohne Anlage für Hämorrhoiden aber mit starker Neigung zur Konjunktivitis in den Aesculus-Zustand kommt ? Wahrscheinlich sind geschwollene Venen im Auge zu sehen anstatt im Rektum und bei Bevorzugung von Lokal-Symptomen wird das Mittel nicht gefunden, da man Aesculus vorallem mit Hämorrhoiden verbindet.

3.    Die Vitalität:     eine starke Vitalität wird der Natur der Störung trotzen und diese auf funktioneller Ebene halten können, oder nur eine “unbedeutende” lokale Pathologie zulassen.

 

In akuten Erkrankungen, besonders bei hochvirulenten Infektionen wird unabhängig von Krankheits-Neigung und Vitalität die entsprechende Pathologie hervorgerufen. Besteht eine starke Bereitschaft für eine bestimmte Erkrankung, dann kann diese durch beinahe jede Störung zum Ausbruch gebracht oder verschlimmert werden. Ist die Bereitschaft nur schwach, dann benötigt es eine intensive und spezifische Störung.

Daher: der sicherste Weg zur richtigen Verschreibung zu gelangen ist, bei den GG- und Allgemein-Symptome zu beginnen. In umgekehrter Richtung, also bei der Pathologie anzufangen, kann gefährlich sein und in die falsche Richtung führen ( 5 , S.72).

Zur Prognose  ( 5 , S. 72)

Die beste Prognose finden wir in jenen Fällen, bei denen sich die Pathologie bei einer nur geringen Bereitschaft dafür entwickelt hat, da es eine sehr spezifische und intensive Störung dazu bedarf.

Auch bei intensiver Störung mit nur geringer Pathologie besteht eine ausgezeichnete Prognose vor, da man nach Erleichterung der Störung fast sicher sein kann, daß die Pathologie wieder verschwindet. Pathologien ohne Bereitschaft (akute Erkrankungen) zählen ebenfalls zu dieser Gruppe.

Bei jenen Fällen aber, die eine starke Bereitschaft mitbringen besteht eine schlechte Prognose, da die Pathologie schon durch geringe Störung bzw. eine beliebige Störung aufrechterhalten wird. Dies sind jene Patienten, bei denen man nur eine schwache zentrale Störung (Modalitäten, Allgemein-, GG-Symptome) mit deutlicher und im Vordergrund stehender Pathologie aufnehmen kann.

 

Vergleich mit historischen Grundlagen

Was findet man zu diesem Thema bei Hahnemann? Sind Sankarans Überlegungen noch der homöopathischen Lehre entsprechend oder verschwindet er bereits in “esoterischem Psychodunst” wie Kritiker meinen ?

 

“.. daß es der homöopathische Arzt … bei allen chronischen Krankheitsfällen nicht allein mit der eben vor Augen liegenden Krankheits-Erscheinung zu thun habe, … sondern daß er es immer nur mit einem abgesonderten Theile eines tief liegenden Ur-Uebels zu thun habe, … daß er folglich möglichst den ganzen Umfang aller der dem unbekannten Ur-Uebel eignen Zufälle und Symptome erst kennen müsse, ehe er sich Hoffnung machen könne, eine oder mehre, das ganze Grundübel mittels ihrer eigenthümlichen Symptome homöopathisch deckende Arznei auszufinden, …” ( 3 , S.6-7),  siehe auch Organon §187 ff:

1.    Die offensichtliche Krankheit ist nur die Spitze des Eisberges, der Ausdruck einer Störung im System.

“Denn da die meisten, ja die allermeisten Krankheiten dynamischen (geistartigen) Ursprungs und dynamischer (geistartiger) Natur sind, ihre Ursache also nicht sinnlich zu erkennen ist ….” ( 4 , Einleitung S.12)

“… die Krankheiten der Menschen [beruhen] auf keinem Stoffe, keiner Schärfe, d.i. auf keiner Krankheits-Materie, sondern daß sie einzig geistartige (dynamische) Verstimmungen der geistartigen, den Körper des Menschen belebenden Kraft (des Lebensprincips, der Lebenskraft) sind.” ( 4 , Vorrede S.9)

2.    Die eigentliche Erkrankung ist eine dynamische (funktionelle) Störung des Systems.

“… (ein äußeres Uebel) … könnte gar nicht zum Vorschein kommen, ohne die Zustimmung des ganzen sonstigen Befindens und ohne die Theilnahme des übrigen lebenden Ganzen (… des Lebens-Princips); ja dessen Emporkommen läßt sich, ohne vom ganzen (verstimmten) Leben dazu veranlaßt zu seyn, nicht einmal denken, so innig hängen alle Theile des Organisms zusammen und bilden ein untheilbares Ganzes in Gefühlen und Thätigkeit. Kein Lippen-Ausschlag, kein Nagelgeschwür giebt es, ohne vorgängiges und gleichzeitiges inneres Uebel-Befinden des Menschen.“( 4 , §189).

3.    Jede Störung wirkt sich ganzheitlich aus.

[Allopathische Ausleitungs- & Purgier-Behandlung ist sinnwidrig, da es nichts abzuleiten gäbe, da Krankheiten] “… nie etwas Anderes waren, als geistig dynamische Verstimmungen seines an Gefühl und Thätigkeit geänderten Lebens.” . “… daß jede [Krankheit] bloß und stets eine besondere virtuelle, dynamische Verstimmung des Befindens ist …”( 4 , Vorrede, S.19)

4.            Krankheit ist eine funktionelle Verstimmung (Störung) des Befindens

“[Krankheiten sind] dynamische Verstimmungen unseres geistartigen Lebens in Gefühlen und Thätigkeiten, das ist, immaterielle Verstimmungen unsers Befindens …” ( 4 , Vorrede, S.17)

5.    Die Störung befällt primär die PNEI-Achse und beeinflußt Gefühle, Tatkraft und Befinden.

“So auch, wenn die sich selbst überlassene Natur bei den dem Leben von einem innern chronischen Uebel drohenden Gefährdungen, sich nicht anders zu helfen weiß, als durch Hervorbringung äußerer Localsymptome, um die Gefahr von den zum Leben unentbehrlichen Theilen abzulenken und auf diese für das Leben nicht unentbehrlichen Gebilde hinzuleiten (Metastase), so führen diese Veranstaltungen der … Lebenskraft doch zu nichts weniger, als zu wahrer Hülfe oder Heilung.” ( 4 , Vorrede S.25). “Zweilen erregt die Lebenskraft, um das innere Siechthum zu erleichtern, kalte Geschwülste äußerer Drüsen …” ( 4 , Vorrede S.26)

6.    Bei bedrohlicher Störung leitet die Lebenskraft die Krankheit in die Peripherie und erleichtert dadurch den Druck. .

“Durch diese Arznei … wird dann der gemeinsame Krankheitszustand des Körpers, mit dem Local-Uebel zugleich aufgehoben, und letzteres mit ersterem zugleich geheilt, zum Beweise, daß das Local-Uebel … als ein untrennbarer Theil des Ganzen, als eins der größten und auffallendsten Symptome der Gesammtkrankheit anzusehen war.” ( 4 , §193) “Der homöopathische Arzt behandelt nie eines dieser Primär-Symptome …, sondern heilt … einzig nur das große, ihnen zum Grunde liegende Miasm, wovon dann auch … seine sekundären Symptome von selbst mit verschwinden …” ( 4 , §205).

7.    Der Arzt soll keine Lokal-Behandlung betreiben, sondern die zentrale Störung behandeln.

“[die Allopathie …] Sie hält die, an den Außentheilen des Körpers befindlichen Uebel, fälschlich für bloß örtlich, und da allein für sich bestehend, und wähnt sie geheilt zu haben, wenn sie dieselben durch äußere Mittel weggetrieben, so daß das innere Uebel nun schlimmer an einer edlern und bedenklichern Stelle auszubrechen genöthigt wird.” ( 4 , Vorrede S.8).

8.    Lokal-Behandlung wirkt suppressiv und verschlimmert die zentrale Störung.

“… Dieser Art sind die sogenannten Gemüths- und Geistes-Krankheiten. Sie machen jedoch keine … getrennte Classe von Krankheiten aus, indem auch in jeder der … Körperkrankheiten, die Gemüths- und Geistesverfassung allemal geändert ist, und in allen zu heilenden Krankheitsfällen, der Gemüthszustand des Kranken, als eins der vorzüglichsten mit in den Inbegriff der Symptome aufzunehmen ist, wenn man ein treues Bild von der Krankheit verzeichnen will, um sie hiernach mit Erfolg homöopathisch heilen zu können.” (§210).

9.            Körperliche wie Geistes- Krankheiten sind Ausdruck einer Störung des Individuums.

10.  Jede Störung verändert den Gemüts-Zustand.

11.  Jeder Gemütszustand repräsentiert die Krankheit  (kurz: der Gemütszustand entspricht der Krankheit).

“Dies geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels der Gemüthszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag giebt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.” (§211).

12.  Am leichtesten gewinnt man über den Geistes- Gemüts-Zustand Einblick in die Natur der Störung.

“Auf diese Haupt-Ingredienz aller Krankheiten, auf den veränderten Gemüths- und Geisteszustand, hat auch der Schöpfer der Heilpotenzen vorzüglich Rücksicht genommen, indem es keinen kräftigen Arzneistoff auf der Welt giebt, welcher nicht den Gemüts- und Geisteszustand des ihn versuchenden, gesunden Menschen [d.h. in einer Arzneimittelprüfung] sehr merkbar veränderte, und zwar jede Arznei auf verschiedene Weise.” (§212).

13.  Jede Arznei vermag einen charakteristischen Gemütszustand hervorzurufen.

14.  Jede Arznei repräsentiert einen charakteristischen Gemütszustand !

“Man wird daher nie … homöopathisch heilen, wenn man nicht bei jedem, selbst acuten Krankheitsfalle, zugleich mit auf das Symptom der Geistes- und Gemüths-Veränderungen siehet und nicht zur Hülfe eine solche Krankheits-Potenz unter den Heilmitteln auswählt, welche nächst der Aehnlichkeit ihrer andern Symptome mit denen der Krankheit, auch einen ähnlichen Gemüths- oder Geistes-Zustand für sich zu erzeugen fähig ist.” (§213). 

15.  Nur Arzneien, die den Gemütszustand des Patienten beinhalten, werden heilen [3] .

“Mit Sorgfalt muß bei ihnen die Erforschung des ganzen Zeichen-Inbegriffs unternommen werden, … um zur Auslöschung der Gesammtkrankheit … ein Heilmittel auszufinden, welches in seinem Symptomen-Inhalte nicht nur die, in diesem Krankheitsfalle  gegenwärtigen Körperkrankheits-Symptome, sondern auch vorzüglich [also vorrangig] diesen Geistes- und Gemüths-Zustand in möglichster Aehnlichkeit darbietet.” (§217).

Der Gemütszustand der heilenden Arznei entspricht dem Gemütszustand des Patienten.

Kann man es denn noch besser beschreiben ? [4]     Hahnemanns Vorstellungen: Zuerst besteht die tiefliegende, verborgene Störung (Miasma), die sich in  allgemeinen, eigentümlichen Symptomen und im Geistes & Gemüts-Zustand ( 4 , §153, §210, §211) ausdrückt. Auf dieser Basis entwickeln sich in individueller Weise die “schwierig zu heilenden” (da lange Zeit nur als Lokalsymptom betrachteten) Krankheiten. Erst die Behandlung der zentralen Störung bringt die Krankheits-Anlage, und damit schließlich auch die Krankheit selbst, zum Verschwinden.

Die Arzneifindung beruft sich “vorzüglich” auf die Indikatoren der zentralen Störung. Dies ist vorallem der Geistes-Gemüts-Zustand [5] , da jede Arznei auch im Prüfer einen charakteristischen Gemütszustand verursacht.

Schlußfolgerung

Dr. Sankarans Beitrag vertieft Hahnemanns Theorien und synthetisiert sie mit modernen Erkenntnissen medizinischer und psychologischer Forschung (siehe Teil 1), ohne einen Schritt vom Weg abzuweichen, den sowohl Hahnemann [6] als auch die “tatsächlichen Fakten” vorgeben.

Mit seinem Konzept der Dynamik der Erkrankung und Behandlung faßt er implizite und oft schon bruchstückhaft ausgesprochene, jedoch selten in dieser Klarheit formulierte Grundlagen homöopathischer Heil-Kunst in leicht nachvollziehbarer Weise zusammen.

Ausblick

In der folgenden Fortsetzung dieses Artikels werden wir uns mit der praktischen Seite des Verständnisses von Patient und Arznei beschäftigen. Die Frage, wie erhalte ich nun Einblick in die Natur der zentralen Störung soll mit einer einfachen und praktikablen Methode beantwortet werden.

 

Literatur

1 .    Allen, J., H.                Chronische Krankheiten – die Miasmen,  Renée von Schlick Verlag, Aachen 1987

2 .            Dunham, C.                Lectures on Materia Medica, im Nachdruck bei B. Jain Publ., New-Delhi 1989, S. 392 ff. (zu beziehen in Deutschland bei Monsoon Verlag, D-2950 Leer); eine Übersetzung von Stefan Reis erschien in Archiv für Homöopathik 1 (1992), S. 164-170

3 .            Hahnemann, S.             Die chronischen Krankheiten, Band 1 (1835), im 5. Nachdruck bei Haug Verlag, Heidelberg 1991

4 .            Hahnemann, S.             Organon der Heilkunst, 6. Auflage von 1921, Hippokrates Verlag 1982

5 .            Sankaran, R.                 The Spirit of Homeopathy, Eigenverlag, Bombay 1991

6 .    Voegli, A.                     Leit- und wahlanzeigende Symptome, Haug Verlag 1984

 

Anschrift des Autors:

Helmut Retzek (cand.med.), Gablenzgasse 17/25, A-1150 Wien, FAX +43-1-9857068



[1] Abkürzungen: PNEI: Psyche, vegetatives Nervensystem, endokrines- und immunologisches System; GG: Geistes-Gemüts; SMM: Situational Materia Medica

 

[2] diese Aussage würde vielleicht die Hinweise erfahrener Homöopathen erklären, Arnika, Rhus-t. oder Ruta bei entsprechenden Verletzungen nicht sofort sondern erst nach einigen Tagen einzusetzen (siehe 6 ).

 

[3] Sankaran geht soweit zu sagen, daß mit anderen Arzneien homöopathische Suppression betrieben wird ( 5 , S.56)

 

[4] Für den Autor, der die Zitate für die Recherchen dieses Artikels zusammengestellt hat, waren nicht sosehr die Tiefe der Hahnemannischer Einsicht überraschend, sondern die Vorwegnahme theoretischer Grundlagen der heutigen “modernen” Schulen, die von den “Klassikern” ja gerne als unhomöopathisch und Nicht-Hahnemannisch beschrieben werden.

 

[5] Hahnemann schien bewußt immer “Gemüths- und Geistes-Zustand zu sagen, nicht – und darauf legt Dr. Sankaran besonderen Wert – Gemüths- und Geistes-Symptome.

 

[6] Seit Beginn der Arbeit an dieser Artikelserie fand der Autor zahlreiche gleichlautende Aussagen in historischen Texten, besonders auf das wunderbare Werk von J.H. Allen Chronische Krankheiten – die Miasmen ( 1 ) oder den angezeigten Abschnitt aus  C. Dunham ( 2 )  sei in diesem Zusammenhang hingewiesen.

publiziert: Rajan Sankaran und die Situational Materia Medica – eine Einführung, Teil 2; AHZ; 239; 4/94; 147

 

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