Artikel von Dr. Dario Spinedi
Home ] Up ]

 

 

 

   Artikel von Dr. Dario Spinedi     

 

 

      siehe auch       

Hauptseite "Dr. Spinedi" (Biographie, Artikel, Seminarmitschriften, Clinic ...)

 

KHZ Band 44 5/2000, S 180-186

Die Homöopathie im 21. Jahrhundert*

Teil 1

 

D. Spinedi

 

Zusammenfassung

Die Homöopathie im 21 Jahrhundert ist die Homöopathie Hahnemanns und Kents. Es gibt keine beliebige Art, Homöopath je zu praktizieren, sondern eine optimale. Wie diese aussieht, wurde von P Schmidt und Künzli weitergegeben. Fehler, Missachtungen und korrektes Arbeiten werden erläutert.

Nach einem Vortrag auf der Jahrestagung des DZVHÄ am 1.6.2000 in Celle.

Schlüsselwörter

Homöopathie, optimales Praktizieren, Künzli.

Summary

Homeopathy in 21 centuiy is the homeopathy of Hahnemann and Kent. There is no arbitrary way to practice homeopathy, but an optimum way. How this way looks, has been passed on by P Schmidt and Künzli. Errors, disregards and correct working

are explained.

 

Keywords

Homeopathy, Optimum practicing, Künzli.

 

1. Einführung

Mit dem Geleitwort zum Buche „Fragwürdige Chemotherapie“ von R. Moss [15] möchte ich diesen Aufsatz anfangen:

„Dieses Buch von Ralph Moss unterscheidet sich grundlegend von der vorausgegangenen Literatur. Meiner Meinung nach ist es von medizinhistorischer Bedeutung, denn es beschreibt mit treffsicherer Genauigkeit den allenthalben sichtbar werdenden Bruch in der Medizin. Dieser wird am weitgehenden Versagen der orthodoxen ‚toxinmolekularen‘ (mit giftigen Stoffen arbeitenden) ‚schulmedizinischen‘ Behandlung chronischer Erkrankungen besonders deutlich.

Das jetzt offengelegte Desaster um die toxische Chemotherapie des Krebses ist das wichtigste Beispiel für das Versagen eines orthodoxen, mechanistischen und unbiologischen Denkens in der Medizin.“

 Weiter unten:

„Schuld an der Kostenexplosion ohne sonderlichen Nutzeffekt tragen wesentlich die orthodox strukturierten Leitungsgremien der Arzte, weniger die Politiker oder die Kassenvertreter.

Für den Bereich der Herz- und Kreislauftherapie, der Behandlung der multiplen Sklerose, der Entkalkungsleiden, der Diabetes-Folgen und anderer Leiden gilt dasselbe.

Dies auch deshalb, weil die noch vorherrschende Medizin aufgrund der erwähnten ‚strukturellen Ignoranz‘ nicht zur Kenntnis nimmt, dass der lebende Organismus eine ungeheure magnetdynamische, feldenergetische ‚Maschine‘ darstellt.

Von der Krebsentstehung über die Ursache der MS bis hin zur Kreislauffunktion und den zugehörigen Therapien ist die Einbringung moderner feldphysikalischer Erkenntnisse längst überfällig.‘

Wenn man diese Worte hört in einem modernen Buch, von Fachleuten geschrieben, fühlt man sich zuhause. So sagt Hahnemann im § 9 des Organons 6. Auflage [2]:

Originalia

 

„Im gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den materiellen Körper belebende Lebenskraft unumschränkt und hält alle seine Theile in bewunderswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und Thätigkeiten, so dass unser inwohnende~ vernünftiger Geist sich dieses lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höheren Zweck unseres Daseyns bedienen kann.“

Erstaunlich wie sich das „magnetdynamische, feldenergetische“ der modernen Physik gut reimt mit der Dynamis von Hahnemann.

Dies alles leitet über zu einem einführenden Text von Emil Schlegel [3], geschrieben (wohlgemerkt!) 1925:

„Vorwort: Das große Bedürfnis der Welt ist die Homöopath ie.

Ein militaristisches Zeitalter geht unter;‘ es breitet sich aus die Morgenröte einer friedlich gesinnten Menschheit.

So muss auch in der medizinischen Wissenschaft jede Vergewaltigung der organisierten Wesen aufhören.

Sie tragen ihre Möglichkeit in sich, alles durch Mittel des Ausgleichs in Ordnung zu bringen.

Die Naturheilkräfte verlangen Heilighaltung ihres Bestandes und willige Dienstfolge der Aerzte statt einer herrischen, ungeduldigen, mit dem Messer drohenden und gewaltsam diktatorischen Herrschaft.

Viele Menschen sehen heute schon diesen Zusammenhang ein; wenige kennen segensreiche Auswege; die meisten Aerzte sind noch in uraltem Dogmatismus befangen.

Aber, dass Neues sich anbahne, ganz anderes kommen müsse, das fühlen auch diejenigen, welche die logische Entwicklung der Heilkunde und deren moderne Wendungen nicht begriffen haben.“

Dieser Text steht als Einführung zu einem Kommentar von Schlegel zur gerade damals erschienenen 6. Auflage des Organons [3].

Es ist erstaunlich, dass bereits damals Schlegel. der ja kein direkter Kent-Schüler war, die-

ser großartige deutsche Arzt mit ausgedehnter philosophischer, ethischer ärztlicher Ausbildung, der sich mit Erfolg an die Krebskrankheit herangewagt, sich auf Kent berufen hat, um das Organon zu erläutern.

Nach dem 3. Paragraphen dieser Organonausgabe schreibt Schlegel Folgendes:

 

„Ich füge jetzt eine zusammenhängende Betrachtung von Kent ein und widme diesem mit Hahnemann zusammen grundlegenden Homäopathen hier einige Zeilen. James Tyler Kent wurde geboren am 31.3.1849 und starb am 6.6.191 6.

Einer seiner Freunde sagt von ihm:

‚Seltene Intuition und Verständnis, logisches Denken und strenge Ordnungsliebe waren seine hervorragenden Eigenschaften.

Sodass Gehorsam gegen das Gesetz und strikte Ergebenheit für die erkannten Grundlagen selbst gegen persönliche Neigungen und Interessen ihn bestimmten.

Im ganzen Bereich der therapeutischen Wissenschaft bestieg er unbetretene Höhen des Schauens und war gleichfalls daheim in den Niederungen der Einzelheiten und der angewandten Kenntnisse.

Als das schliessliche Ergebnis seines Lebens legte er in unsere Hände die Bücher. welche für lange Zeit Führer und Waffen sein werden um erfolgreiches und genaues Arbeiten in der Heilkunst zu verwirklichen:

Die Materie Medica

Das Repertorium und die Krönung seiner Werke Die Lectures ca homoeopathic philosophy Ihre Hauptstärke beruht in einer grossen ärztlichen Erfahrung, welche durch genauen Anschluss an Hahnemann bestimmt wurde.

Von dem vielfachen Variieren der Behandlungsart, wie es allgemein üblich und auch von mir selbst praktisch vertreten ist, kommt bei Kent nichts vor.

Er ist der überaus bestimmte und fleissige Nachfolger eines grossen Entdeckers, welcher in dessen Aufstellungen das Ideal selbst gefunden hat und auch in der Praxis dadurch Grosses erreichte.‘

 Es ist daher nicht erstaunlich, wenn 60 Jahre später Künzli Folgendes sagte [9]:

„Sie haben gesehen während des Kongresses in Washington und San Francisco wieviel Konfusion dort war. Es war schrecklich zu hören alles was da im Namen der Homöopathie erzählt wurde. Wenn man ein Zentrum oder Institut gründen möchte müsste man dann eine ganz klare Methode haben und ich sehe nur eine solche: dies ist kent‘s Methode. Man muss die Prinzipien die uns Kent gegeben hat, ganz genau lernen. Es ist zuviel Unklarheit herum, was unter Homöopathie zu verstehen ist.

Hahnemann ist perfekt logisch, klar, kohärent gewesen. Es ist kein Platz für Interpretationen oder eigene Meinungen.

Alles was Kent so schön später formulierte ist in den Schriften Hahnemanns alles schon formuliert.

Das eine fliesst harmonisch in das andere über. Wenn man Homäopathie akzeptiert, akzeptiert man automatisch, was Hahnemann uns gelehrt hat und sobald man soweit ist, ist keine Diskussion mehr ob man Kent akzeptiert oder nicht. Wenn einer denkt, er könne nach Belieben dies oder jenes verwerfen nur aus Sympathie oder Antipathie, beweist, dass er nicht das Wesentliche in der Homöopathie verstanden hat. Wenn einer Kent meistert, was reine Homöopathie ist, dann kann er auch andere Dinge versuchen, wenn er will: wenn aber einer diese Methode meistert, wird er sehen, dass er nicht das Bedürfnis hat anderes zu probieren! Einer wird bleiben bei dieser reinen Homöopathie, ich bin davon überzeugt. Leute, die Kent nicht akzeptieren und nicht nach seiner Methode praktizieren, da bin ich sicher, haben seine Methode nicht begriffen, und sie haben sie nicht begriffen, weil sie sich nicht die Zeit genommen haben sie genau zu lesen. Wenn sie sie lesen würden, müssten sie sie verstehen! Sie kritisieren Kent ohne zu wissen was sie sagen, da bin oh sicher. Ich glaube kaum, dass diese Leute ein Buch von Kent jemals geöffnet haben. ~Venn jemand mit dem Wort ‚Kentianer‘ anfängt ~m diese reine Homöopathie zu kritisieren, .veiss ich sofort, dass sie Kent nicht kennen. .ind so kritisieren sie auch Hahnemann, weil ~e den Organon nie gelesen haben.“

D~ese etwas langatmige Einführung soll klar machen, dass es nicht eine beliebige Art gibt,

-ach der man Homöopathie praktizieren kann, ~ondern dass es eine optimale Form der Theo-

-e und Praxis der Homöopathie gibt.

Die Grundlagen gibt uns Hahnemann und die effizienteste Weiterentwicklung der Gedankengänge von Hahnemann hat uns Kent geschenkt.

  

II.        Die historische Dimension in der Homöopathie

 

Wenn man die vielen Kontroversen, Auseinandersetzungen, Spaltungen innerhalb der homöopathischen Welt betrachtet und analysiert, sieht man sehr schnell ein, dass viele Fehler entstanden sind, weil man die Quellen nicht richtig verstanden hat und weil man die historische Dimension innerhalb der Homöopathie vernachlässigt hat; weil man eigene Phantasien in die reine Lehre eingemengt hat.

Die Quellen hat man oft nicht verstanden, weil die Übersetzungen in fremde Sprachen nicht korrekt waren, weil man den Sinn verdreht hat, weil man die Tatsachen nicht anerkennen wollte. Weil die Einfachheit der Wahrheit manchmal „blendet“.

Als Hahnemann Band 1 der Chronischen Krankheiten, die 2. Auflage [4] geschrieben hatte hatte er bereits 55 Jahre geforscht und praktiziert. Und man kann Hahnemann sicher nicht absprechen, dass er ein außerordentlich ernsthafter und zuverlässiger Forscher war.

Es gab immer wieder Leute, die es wagten und heute noch wagen, diesen Text unkritisch, ungeprüft zu kritisieren, zu verwerfen, wie ein Antiquariatswerk, das überholt ist, oder sie legen ihn dann so aus, wie es ihnen passt mit dem Vorwand es sei alles veraltet, was da steht.

Dass viele Homöopathen eigene Phantasien in die reine Lehre eingemischt haben, rührte oft daher, dass man sich nicht vom Licht der Wahrheit leiten ließ, sondern von der eigenen Eitelkeit beim Verkünden oder Niederschreiben.

Ein Weiser soll gesagt haben, dass der größte Kampf im Erreichen der erhabensten Ziele in der eigenen Seele und nicht draußen geschieht.

Wenn die eigene Seele die Wahrheit sucht, dann ist das, was man sagt und tut, auch richtig.

Wenn ich über die Homöopathie im neuen Jahrhundert schreibe, dann nicht, ohne die Vergangenheit gebührend gewürdigt zu haben.

In den vergangenen Jahren habe ich mich sehr bemüht das Werden der Homöopathie von ihren Anfängen bis zur modernen Zeit zu verstehen. Diese Arbeit habe ich teils in einigen Aufsätzen dokumentiert, teils in einigen nichtpublizierten Vorträgen vorgestellt.1~

Bei allen diesen Arbeiten ging es um die historische Entwicklung in Bezug auf die besprochenen Themen.

Das Resultat dieser Forschungen ist, dass die Homöopathie etwas Lebendiges ist, was im Laufe der Zeit einem dauernden Wandlungsprozess unterworfen war, wobei das Resultat dieser Wandlung eine stetige Besserung der Methode erzeugte.

Es ist bezeichnend, dass die reinere Form der Erkenntnis, wir wollen sie die reine Lehre nennen, von bestimmten Trägern auf andere übertragen wurde.

Diese Auserwählten haben dafür gesorgt, dass die Lehre rein blieb und in ihrer größten Vollendung praktiziert und an die Nachfolger weitergegeben wurde.

Außerordentliche, herausragende Gestalten dieser Art waren in der Geschichte der Homöopathie nicht viele und sie stellen den roten Faden der Lehre dar.

Hahnemann war der erhabendste.

Kein zweiter nach Hahnemann hat, wie wir schon oben gesehen haben, wie Kent die Homöopathie beeinflusst, weiterentwickelt und verfeinert.

Pierre Schmidt hat dieses ganze Wissen nach Europa zurückgebracht und während vieler Jahre zusammen mit Künzli auf dem Kontinent verbreitet.

Wenn man nur kurz die Wandlung überblickt, welche Hahnemann im Laufe seines Lebens in Bezug auf seine Lehre durchgemacht hat, wird

man einige wichtige Erkenntnisse gewinnen:

a) Die Wandlungsfähigkeit der Methode im Laufe der Zeit, obwohl die grundlegenden Axiome

   Similegesetz

   Mittel auswirken lassen

   nie in der Besserung wiederholen meist unverrückbar blieben

b) Die Wichtigkeit zu wissen, auf welcher Arbeitsstufe Hahnemann sich befand, wenn man ein Werk von ihm zitiert, weil viele Dinge, die er in einer früheren Epoche sagte, später verlassen wurden.

c) Die Dosierung hat sich im Laufe der Zeit dauernd verändert bis ein Höhepunkt in der Pariser Zeit erreicht wurde mit den 0-Potenzen.

 

Was ist bei Hahnemann endgültig? Seine 6. Auflage des Organonl

Künzli äußerte sich folgendermaßen dazu [11]:

„Die Theorie der Homäopathie, das ist das Organon, nicht wahr. Das ist die erste Theorie der Homöopathie gewesen vor ungefähr 200 Jahren. Das Organon hat ja 6 Auflagen erlebt; die letzte ist posthum herausgekommen. Hahnemann hatte sie noch selbst fertiggeschrieben; aber sie ist zu seinen Lebezeiten nicht mehr zum Druck gekommen. Und diese 6. Auflage ist nun die Summe seines Lebens. Man kann somit nicht mehr kommen mit Aussagen aus der 4. Auflage und sagen, Hahnemann hat dies und jenes geschrieben. Dies hat er eine zeitlang praktiziert und dann verlassen. Er hat das ganze Leben an der Methode herumgefeilt, und über die 6. Auflage hinaus geht einfach nichts. Darum ist sie diejenige, auf die wir uns stützen in Zürich.“

Das Wesentliche, was in den Chronischen Krankheiten, Band 1, 2. Auflage [15] geschrieben wurde, ist:

1. Die Wichtigkeit der Erkenntnis der Natur der chronischen Krankheiten als chronische Infekte mit allen klinischen Folgen für die

Band 44

Eugenetik und für die Prophylaxe, welche in einem solchen Wissen impliziert sind.

2. Die große praktische Bedeutung, dass man die Anamnese von der Geburt bis zum jetzigen Zeitpunkt erheben muss, um Symptome nicht nur palliativ wegzubehandeln.

Allzu oft liest man Anamnesen, die sich nur auf das Momentane beziehen, oder nur auf einen sog. „Gemütszustand“ und erlebt, dass auf Grund dieser Torsi dann verschrieben wird mit einer folgenden palliativen, unterdrückenden Wirkung. Wir können mit der Homöopathie ebenso unterdrücken wie mit der Schulmedizin.

3. Die Erkenntnis, dass nur gewisse Mittel wirklich fähig sind, chronische Krankheiten zu heilen.

 

Er gibt genaue Anweisungen bezüglich der Globuligröße, speziell bei der Herstellung der 0-Potenzen, was aber von vielen Herstellern nicht genau berücksichtigt wird.

Im ersten Jahr in unserer Klinik erlebten wir auffallend viele Erstverschlimmerungen bei der Anwendung der Q-Potenzen und dies führte uns oft zu falschen Interpretationen des Verlaufs, bis wir merkten, dass die Globuli zu groß waren. Ab diesem Zeitpunkt fingen wir an die Mittel aus dem dritten Glas zu verdünnen und schon sahen die Verläufe ganz anders aus. Dies nur ein kleines, aber klinisch außerordentlich wichtiges Beispiel für die Wichtigkeit des genauen Befolgens der pharmakologischen Regeln.

Wir könnten noch lange über die wunderbare Bedeutung dieses Band 1 CK reden.

Ein prophetisches Werk, das auf Jahrhunderte in die Zukunft hinausweist, und daher so missverstanden worden ist.

Die Anweisungen von Hahnemann in seinem endgültigen Organon, 6. Auflage, beziehen sich vorwiegend auf die Q-Potenzen.

Immer wieder gibt es Homöopathen, die mit CPotenzen arbeiten und dabei Paragraphen aus

Organon VI zitieren, die sich auf die Q-Potenzen beziehen.

Es ist ein großer Verdienst von J. Schmidt, dass er eine textkritische Organonausgabe geschrieben hat, in der man ganz klar die Korrekturen von der 5. zur 6. Auflage des Organons erkennen kann.

Viele Kollegen haben eben keinen Uberblick über die historische Dimension der Homöopathie und können somit auch die verschiedenen Werke nicht einordnen.

Den modernen Trend, vermehrt zu den 0-Potenzen zurückzukehren, sehe ich mit etwas Bedenken.

Erst bei der zusammen mit P Schmidt durchgeführten Übersetzung von Organon 6 ins Französische hat Künzli 1947/48 die 0-Potenzen „wiederentdeckt“.

Nach jahrzehntelanger vergleichender Erfahrung der Hahnemann‘schen 0-Potenzen mit den Kentschen Centesimalpotenzen hat Künzli immer wieder betont, dass für die Mehrzahl der chronischen Langzeitbehandlungen die Kentschen Potenzen aus verschiedenen Gründen vorzuziehen und praktikabler seien.

Es war Künzli, der die lndikationen ausgearbeitet hat, bei denen die 0-Potenzen den C-Potenzen vorzuziehen sind.

Künzli hat seit der Wiederentdeckung der 0-Potenzen stets darauf hingewiesen, dass Hahnemanns Intention einer milden und zugleich heilkräftigen Wirkung nur solche 0-Potenzen gerecht werden, die exakt nach Hahnemanns Vorschriften des Organons 6 hergestellt und verabreicht werden.

Leider sieht man heute in Europa die verschiedensten Verabreichungsarten von 0-Potenzen. Es kommen manchmal Patienten in unsere Klinik mit dem richtigen Mittel von einem Kollegen als 0-Potenz verabreicht, das aber überdosiert gewesen war und somit eine schlechte Wirkung vortäuschte. Dies kann für die Patienten dann verhängnisvoll sein, speziell beim Krebs.

Wenn wir nun Kent betrachten, sehen wir wie im Laufe seines Lebens eine stetige Wandlung der Methode stattgefunden hat zu immer höheren Potenzen bis zur Entdeckung der kentschen Hochpotenzskala.

Kent kannte nur Organon 5. Da ist keine Rede von 0-Potenzen und somit entwickelte er die Hochpotenzen hinauf bis zur MM.

Wenn man die 1900 durch seine Schüler publizierte Theorie der Homöopathie [51, seine „Lectures on Homoeopathic Philosophy‘, liest, muss man sich bewusst sein, dass Kent 16 Jahre vor seinem Tod noch in einer frühen Stufe seiner Entwicklung stand.

In den „Lectures“ steht noch nichts von der Kentschen Skala.

Dazu sind viele philosophische Vorträge enthalten, welche die starke Durchmischung der reinen Lehre mit der Swedenborgphilosophie offenbaren.

Der SwedenborgianismUS war eine kirchliche Strömung, welcher viele der Hauptvertreter der Homöopathie in den USA angehörten.

Dadurch kam in die Theorie auch der Satz:

„Das Gemüt ist der Schlüssel zum Menschen‘, was ja viele Homöopathen veranlasste, die Geistes- und GemütssymptOme an die erste Stelle bei der Wertung der Symptome zu stellen, was in vielen Fällen verhängnisvoll ist.

Wie oft musste ich nach einer genauen Analyse des Gemütszustandes meine Mittelwahl korrigieren aufgrund von ganz einfachen körperlichen Symptomen.

Es ist fast die Regel in der täglichen Arbeit in der Klinik.

Die Geistes- und Gemütssymptome sind wichtig, aber sie kommen nur an zweiter Stelle bei der Wertung der Symptome.

KünzIi äußerte sich wie folgt zu diesem Problem [11]:

Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemüts-symptome ist eine lrrmeinung verbreitet. Viele halten die GemütssymptOme für die wichtigsten, dabei bezeichnet Hahnemann ausdrücklich die auffallenden Symptome als die wichtigsten. Die Geistes- und GemütssymptOme sind

keineswegs die wichtigsten Symptome, sondern sie sind manchmal so etwas wie das Zünglein an der Waage.

Hören sie, wie Hahnemanfl sich ausdrückt. Im Organon spricht er zuerst über die Gemüts- und Geisteskrankheiten und sagt dann im Paragraphen 211:

.Dies geht soweit, dass bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der GemütsszuStafld des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann...

Das gibt oft den Ausschlag! Bei einem Fall sind sie im Zweifel und denken z.B., das könnte entweder Sulfur oder Nux vomica sein. Aber der Geistes- und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr verschieden; dann gibt eben der Gemütszustand den Ausschlag, entweder für Sulfur oder für Nux vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als letztes schauen sie den Patienten an: wie schätzen Sie seinen Gemütszustand ein‘? Ist er ein Melancholiker ist er phlegmatisch usw? Aufgrund dessen entscheiden sie sich vielleicht für ein Mittel und lassen ein anderes fallen, das diesem Gemütszustand nicht entspricht.

Die Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die höchste Stelle. Das müssen sie sich unbedingt merken!

Wenn sie nähmlich den Gemütszustand als Wichtigstes nehmen, besteht die Gefahr, dass sie ganz gewöhnliche Geistes- und GemütssymptOme auflisten und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler wird häufig begangen:

es werden einfach viele GeistessymptOme entweder am Computer oder von Hand zusammengestellt; dann wird nach diesen Symptomen ein Mittel bestimmt, ohne auf die anderen Symptome zu achten. Das geht ganz daneben. auf diese Art und Weise werden Sie kein Simillimum finden! So geht es nicht. Die Geistes- und GemütssymptOme stehen unbedingt erst an zweiter Stelle...“

 

Wie man sieht hat KünzIi immer wieder versucht, Klarheit zu schaffen bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und GemütssymptOme t

der HierarchisierUng. Grund genug, seine te sehr ernst zu nehmen.

Es wird durch viele moderne Homöopathe gesündigt gegen diese mahnenden Worte.

Wenn es um die Anwendung des Paragraphe 211 geht, sind die vielen Hinweise von 1 Sankaran bezüglich des „Gemütszustafl

wie er sie in seinem Buch „Das geistige Prir~ der Homöopathie“ [10] darstellt, manchmal v großer Hilfe, was KünzIi in seinem Vorwort diesem Buch auch entsprechend würdigt.

 

„Sankaran stellte ja die Verbindung zwischen Homöopa und TiefenpsycholOgie her, was eine Integration der m mensen Entdeckungen von Freud und seinen Schülern die Homöopathie erlaubt.“

 

Es ist erstaunlich, wie oft wir in unserer Klinik beobachten, dass nach Verabreichung des korrekten Mittels Träume hochkommen, die dem zentralen Problem des Patienten entsprechen und zugleich zum archetypischen Mittelbild eine enge Ahnlichkeitsbeziehung haben. Die Psychiatrie und die Psychotherapie der Zukunft werden sehr viel profitieren durch die Erforschung dieser wunderbaren Zusammenhänge von Tiefen psychologie und Homöopath ie.

 

Wir verdanken es R Schmidt, der in den USA bei den engsten Schülern Kents (Austin und Gladwin) Homöopathie studierte, dass er die letzten Entwicklungen von Kent nach Europa herüberrettete.

Er fügte der Theorie der Homöopathie von Kent außerordentlich wichtige Bemerkungen hinzu. welche diese neueste Entwicklung berücksichtigten.

Diese Bemerkungen sind in Form von Fußnoten niedergeschrieben.

Das Buch wurde von P. Schmidt und Künzli ins Französische übersetzt [6].

Dieses Werk wurde daher die Haupttheorie der Homöopathie für die Anwendung der 0-Potenzen.

Künzli übersetzte das Werk auch noch ins Deutsche und verwendete es als Theorie der Homöopathie während der 15 Jahre im Rahmen der „Zürcher Vorlesung“.

Es wurden immer nur die praktischen Kapitel gelesen:

1. Die Untersuchung des kranken

2. Die homöopathische Verschlimmerung und die zweite Verschreibung

3. Die Wertung der Symptome

 

Die mehr philosophischen Kapitel ließ er weg, weil sie zu spekulativ waren.

Künzli dazu [9]:

 

‚Dr. Pierre Schmidt und ich haben das Organon ins Französ sche übersetzt und er übersetzte auch Kenfs Lectures on

-cmeopathic Philosophy. Und diese neue französische tion ist wunderbar, sie ist wirklich viel besser als das

~‘ent Original in Englisch!

:3 st darin absolut nichts geändert worden, die Sprache

—acht aber das Werk klarer, die Sätze fließen besser.

ssen Sie, einer könnte eine Schule der Homöopathie er:““en nur mit folgenden Werken:

-    Organon

-    Theorie der Homöopathie von Kent

-        Repertorium von Kent

-    Materia Medica von Kent und

-    Die chronischen Krankheiten von Hahnemann.

Diese Bücher allein sind das „Herz“ der Homöopathie.

Pierre Schmidt hat dann viele sehr gute Kommentare zugefügt zur Philosophie der Homöopathie von Kent.

Dieses Buch ist unentbehrlich zum Studium der Homöopathie.

Diese Übersetzung war so gut, dass ich sie übernahm als Grundlage für die Übersetzung ins Deutsche.

Dies ist eben der Text, den wir jetzt da brauchen.“

 

 

Ich glaube mit diesen wenigen Ausführungen die Wichtigkeit der historischen Dimension gezeigt zu haben, nicht nur für das theoretische Verständnis, sondern für unsere tägliche praktische Arbeit, damit wir die Forderung des Paragraphen 1 erfüllen.

Letztlich las ich in der Zeitschrift für Klassische Homöopathie in einem Aufsatz folgenden Satz

[17]:

 

„Obschon Hahnemann mit Nachdruck dazu aufgefordert hatte, ihm in seinem System der Heilkunst genau nachzufolgen, erfuhr die Homöopathie bereits früh Änderungen durch Andere, z.T. geringfügiger Art und aus dem Schrifttum Hahnemanns ableitbar, z.T. aber auch sehr weitgehende, welche in verschiedene neuere Lehren der Homöopathie ausmiindeten. Als bekanntere sind hier unter anderem Kent, Ortega, Masi und Sankaran zu nennen.

Eine sachlich fundierte Orientierung innerhalb der verschiedenen Lehren ist deshalb eher schwierig, und die gewählte Ausrichtung wird für den Einzelnen zur Glaubenssache.“

 

Man wird verstehen, warum ich großen Wert auf das Studium der Geschichte der Homöopathie lege. Obiger Satz allein ist schon genug, um Verwirrung zu stiften unter den jüngeren Generationen von Homöopathen, welche noch nicht sattelfest im Erkennen des roten Fadens sind und nicht das Glück hatten einen Lehrer zu haben, der jahrzehntelang sauber nach der Kentschen Methode gearbeitet hat mit erstaunlichen klinischen Resultaten.

 

 

Anmerkungen

1)   „Das Werden von J.T.Kent‘, eine Studie über die

Entwicklung von JE Kent anhand der „Kent~s Minor Writings on Homeopathy, compiled and edited by Klaus Henning Gypser“, im Rahmen der September-woche 1995 in Locarno vorgetragen.

„Die Psora, eine Studie über die Bedeutung der Psora für den klinischen Alltag anhand von Band 1 Chronische Krankheiten, II. Auflage, von S. Hahne­mann. In Baden bei Wien vorgetragen.

„Die Sykosis“, eine Studie über die Sykosis und ihre Beziehung zum klinischen Alltag unter Berücksich­tigung der modernen Forschungsergebnisse in der Mikrobiologie, anhand von Band 1 Chronische Krank­heiten, lL Auflage, S. Hahnemann und des Buches „The Chronic Miasm, Psora and Pseudopsora“ von J.H. Allen und des Werkes „Die hereditären chroni­schen Krankheiten von Y. Laborde und G. Risch, vor­getragen in Baden bei Wien 1996 und in Bad lmnau

Literatur

[1] GrimmerA: Cancer, its cause, prevention and eure. In:

The collected works of Arthur Grimmer M. D. Ed. by A. N. Currim, Greifenberg: Hahnemaflfl International In­stitute tor Homeopathic DocumentatiOfl, 1996.

[2]  Hahnemann S: Organen der Heilkunst. 6. Aufl., bear­beitet und herausgegeben von Josef Schmidt. Heidel­berg: Haug, 1992.

[3]  l-lahnemann S: Ordnung der Heilkunde. Das Organen der Heilkunst, zuerst 1810 erschienen nach der neue­sten Auflage und unter Benützung von Vorlesungen weiland Professor J. T. Kent in Chicago, erläutert von E. Schlegel. Regensburg: Sonntag, 1925.

[4]  Hahnemann S: Die chronischen Krankheiten. Bd. 1, 2. Aufl., Heidelberg: Haug, 1979.

[51       KentJ 1? Zur Theorie der Homäopathie. J. T. Kents Vor­lesungen über Hahnemanns Organen, übersetzt von Dr. med. Jost KOnzIl von Fimmelsberg, 4. Aufl., Heidel­berg: Haug, 1996.

[6] Kent J T: La science et art de lhomeopathie. 2~ EdLt., trad. par le Dr. Pierrre Schmidt, Maisoneuve 1969.

[7]  Morrell P: Kents Einfluss auf die britische Homäopa­thie. AHZ 2000: 245:128.

[8] Moss R: Fragwürdige Chemotherapie. Heidelberg:

Haug, 1997.

[9]  Naudd A: Interview with Dr. Jost Künzli from St. Gall, Switzerland, during his brief visit to San Francisco to attend the Homeopathic International Congress. Homeotherapy 1974; 1:3—7.

[101         Sankaran R: Das geistige Prinzip der Homöopathie. 1. Deutsche Ausgabe, Bombay: Homeopathic Medical Publ., 1995.

[11]         Spinedi 0: Laudatio zum Tode von Dr. Jost KOnzil von Fimmelsberg. Documenta Homoeopathica, Bd. 12, Wien—München—Bern: Maudrich, 1992.

[12] Spinedi 0: Die Entwicklung der homöopathisChen Pra­xis seit Hahnemann. In: Homöopathie 150 Jahre nach Hahnemaflfl, Standpunkte und Perspektiven. Hrsg. R. Appell, Heidelberg: Haug, 1994.

[13] Spinedi D: Vorwort zur Neuausgabe der Theorie der

Homöopathie von J. T. Kent, übersetzt von Dr. med.

Jost Künzli von Fimmelsberg. 4. Aufl., Heidelberg:

Haug, 1996.

[14]         Spinedi D: Die moderne Behandlung der chronischen Krankheiten. In: ZKH 1999: 43: 131—142 u. ZKH 1999:

43:175—1 84.

[15]         Spinedi 0: Die Krebsbehandlung in der Homöopathie. Seminarmitschrift, Bd.1, Kempten: Cheiron, 1998.

[161        Stahl M: Der Briefwechsel zwischen Samuel Hahne­mann und Clemens von BönninghauSen. Bd. 3, Hei­delberg: Haug, 1997.

[17]         Wischrier M: Samuel Hahnemanns Gratwanderuflg zwischen Vereinfachung und Verifikation. ZKH 2000; 44: 3—12 u. ZKH 2000: 44: 56—66.

Dr. Dario Spinedi

Clinica Santa Croce

CH-6644 Orselina

 

Fortsetzung folgt

 

nach oben

 

Dario Spinedi:

   Vorwort zur Neuausgabe der „Theorie der Homöopathie“ von J.T. Kent     

In der Übersetzung von Jost Künzli von Fimmelsberg

Noch nicht Fehlerkorrigierter Scan aus dem Buch

 

Ohne Zweifel ist das vorliegende Werk (1) - wie Pierre Schmidt bei der Einleitung der französischen Übersetzung desselben erwähnt (2) - bis zu unseren Tagen bei weitem die beste Theorie der Homöopathie.

Was allerdings bis jetzt gefehlt hat, ist eine kritische Auseinanderset­zung mit diesem Buch.

Im Rahmen dieses Vorwortes kann sich die Kritik aber nicht auf alle Punkte erstrecken, sondern nur auf einen, der wegen seiner Wichtigkeit für die Praxis der Homöopathie spezielle Bedeutung verdient, nämlich:

die Überbewertung der Geistes- und Gemütssymptome, die Kent in sei­nem Werk vorgenommen hat.

Man kann meines Erachtens Kents „Theorie der Homöopathie“ nicht kritisch gegenüberstehen, wenn man nicht ihre historische Bedingtheit und den Werdegang ihres Autors etwas näher unter die Lupe nimmt.

Das Buch wurde 1900 veröffentlicht, also 16 Jahren vor dem Tode Kents. Es stellt somit nur eine Zeitaufnahme im Werdegang des Meisters dar; Ienn Kent arbeitete unermüdlich an der Verfeinerung seiner Methodik, ~.peziell an der Dosierungslehre, bis zu seinem Lebensende.

Wenn man das Wirken Kents genauer studiert (3), frappiert die Diskre­anz zwischen seiner praktischen Arbeit und seinen theoretischen Auf­atzen. Bei der Analyse aller Kasuistiken, die von Kent veröffentlicht

• 2d (3), ist mir aufgefallen, dall er sich bei der Lösung der Fälle immer

•--ikt an Hahnemann gehalten hat, d.h. er hat meist Symptome im Sinne n Paragraph 153 gewählt zur Mittelbestimmung; selten findet man

~tes- imd Gemütssymptome in seinen Krankengeschichten (dasselbe

• r-inte man von den Krankengeschichten Hahnemanns und seiner en­en Schüler sagen).

• enn man hingegen seine theoretischen Aufsätze liest, sieht man, daß

- nach Epoche andere Ansichten vertreten hat, die in meinen Augen

XXXI

 

Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe

für die Entwicklung der Homöopathie in unseren Tagen schwerwie­gende Folgen gehabt haben.

Noch im Jahre 1911, also 5 Jahre vor seinem Tode schreibt Kent in einem Aufsatz (3 a):

„1. The centre of man is his loves

2. The second point of consideration in the study of the patient is the intellectual functions, the reasoning faculties

3. Memory disturbances come next ...„ Frei übersetzt:

„Das Zentrum des Menschen ist das, was er liebt und haßt An zweiter Stelle kommen die intellektuellen Funktionen, das Denken. Als nächstes folgt das Gedächtnis.“

Es folgen dann die Allgemeinsyintome.

irgendwann im Aufsatz taucht dann die Aussage auf, daß Iiahnemann die größte Bedeutung den auffallenderen, sonderlichen, eigenheitiichen Symptomen gab.

Eine ähnliche Aussage trifll nian auch in den „Lectures ofhomoeopathic plzilosophy“ im berühmten Satz:

„The mihd is the key to the man.“ - „Das Gemüt ist der Schlüssel zur Person.“

Woher kommt diese Abweichung von Hahnemann, der ganz deutlich die auffallenderen, sonderlichen, eigenheitlichen Symptome zuoberst in der Hierarchisierung stellt?

Man muß wissen, daß Kent ein Anhänger der Swedenborg-Philosophie war. Die Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß in den Jah­ren 1888-1899 vermutet werden (4), also in der Zeit kurz vor Heraus­gabe der „Theorie der Homöopathie“.

Wie man aus obigem Aufsatz von 1911 sehen kann, hat dieses Gedan­kengut Swedenborgs lange bei Kern nachgewirkt.

Der Einfluß Swedenborgs ist offensichtlich:

Die hierarchische Einteilung der Psyche in die genannten drei Niveau-stufen in Swedenborgs „Doctrine ofthe degrees“ (4 a).

Es hat also eine gewisse Uberlagerung der reinen Lehre Jlahnemanns durch die Swedenborg-Philosophie stattgefunden und dies hat dazu ge­führt, daß viele Homöopathen sich auf Kent berufend - eben den Kent der Swedenborg-Periode -‚ den Geistes- und Gemütssymptomen eine

XXXII

übermäßige Bedeutung beimessen. Ein Trend, der heutzutage erschrek­kende Ausmaße angenommen hat und sicher nicht der Homöopathie lfahnemanns förderlich ist.

Ich sprach eben von der historischen Bedingtheit dieses Werkes, warum?

Was sagte Kern ein Jahr später, 1912, in einem weiteren sehr schönen Aufsatz (3b):

„Hahnemann‘s teaching has never been improved upon. We must be guided by the syxnptoms that are strange, rare, and pecullar. How shall wedothis?

By first ftxing in mmd what symptoms are common, then it will be easy Io discover what symptoms are uncommon, on, in other words, strange, rare, peculiar.

Common symptoms are such as are pathognomonic of diseases and of ~iathology, and such as are common to many remedies and are found in arge rubric in our repertories

Es sei mir die Ubersetzung dieses sehr wichtigen Abschnittes erlaubt:

„Die Lehre Hahnemanns ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unüber­1 ‚offen. Die auffallenderen, seltenen, sonderhchen Symptome müssen ‘ins bei der Mittetwahl führen. Wie sollen wir dies tun?

Zuerst müssen wir uns darüber klar werden, welche Symptome ge­wöhnlich sind, dann wird es leicht sein, die ungewöhnlichen Symptome tu entdecken.

Gewöhnliche Symptome sind pathognomonische Symptome für die be­treffende Krankheit und solche, die vielen Mitteln gemeinsam sind und iii den großen Rubriken unserer Repertorien gefunden werden ....

Jetzt sind wir wieder bei Hahnemann. Kern hat auf einem Umweg dank seiner Praxis wieder zurück zu Hahnemann gefunden. Es besteht voll­kommene Ubereinstimmung zwischen dem alten Kent und Hahne­mann.

Aber was für Konsequenzen hat dies für uns? Wenn wir die Lehre Kerns studieren wollen, dann müssen wir vor allem auch die Schriften aus sei­„en letzten Lebensjahren berücksichtigen.

Konkret bedeutet dies, daß nebst der „Theorie der Homöopathie“ von Itent auch seine „Minor Writings“ (3) studiert werden müssen, um den Meister wirklich zu verstehen.

Bei Hahnemann triffi dies auch zu. Es würde doch keinem in den Sinn kommen, mit der ersten Auflage des Organon“ zu praktizieren. Man studiert die letzte, die 6. Auflage, das letzte Testament des Meisters und nicht irgendeinen Zwischenschritt seiner Entwicklung.

Die Zwischenschritte sind wichtig, um den Werdegang zu verstehen, aber sie sind nicht der Maßstab für die praktische Arbeit.

Dasselbe gilt auch für die Entwicklung in der „Kentschen Skala“. In „Theorie der Homöopathie“ findet sich nirgends die Lehre der „Kent­schen Skala“, weil er diese damals noch nicht kannte.

Durch unglaubliches Arbeiten und Experimentieren an tausenden von Patienten entwickelte Kent, offenbar auch durch Swedenborg inspiriert (4b), seine berühmte Skala, welche besagt, daß die Potenzen dann am besten wirken, wenn sie in folgender Reihenfolge verabreicht werden:

3o, 2oo, M, XM, LM, CM, DM, MM.

In einem Aufsatz aus den „Minor Writings“ (3c) sieht man sehr schön, wie Kent zu dieser Skala gekommen ist.

Das Schicksal des Werkes Kents ist, zumindest für den mitteleuropäischen Raum an zwei Namen geknüpft, nämlich:

 

Pierre Schmidt und Jost Künzli von Fimmelsberg.

 

Pierre Schmidt lernte Homöopathie bei zwei Schülern Kents,Austin und Gladwin, in den USA (5), er konnte somit die Entwicklung Kents bis zu dessen Tod an der Quelle und unverfälscht erfahren.

 

Es war Pierre Schmidt bewußt, daß die „Lectures“ ein unvollständiges Werk war. Er fügte somit zahlreiche Bemerkungen hinzu, welche die neueste Entwicklung Kents berücksichtigen sollten, z.B. die Bemerkung bezüglich der Kentschen Skala und andere mehr, welche für die Praxis sehr relevant sind.

 

Daher auch der Satz im Vorwort von Künzli „... auf den heutigen Stand der Wissenschaft“.

Letzthin traf ich einen Kollegen, der sich eine Neuherausgabe der „Lectures“ von Kent ohne die Kommentare von Pierre Schmidt gekauft hatte und mich fragte, wie man denn die Mittel verabreichen solle, es stehe ja nichts im Buche von Kent. Ich riet ihm, dieses Buch mit den Kommenta­ren von Pierre Schmidt zu kaufen, dort stehe unter anderem auch die Kentsche Skala.

Zurück zu den Quellen! - ein viel gebrauchtes Wort heutzutage - ist schon gut, aber man sollte zu den richtigen Quellen zurückgehen und nicht don stehenbleiben, wo der Meister erst auf halbem Wege ist.

In einem Interview anläßlich des Ligakongresses in Washington 1974 (6) äußerte sich Künzli folgendermaßen zur "Theorie der Homöopathie“:

„Dr Pierre Schmidt und ich haben das ‚Organon‘ ins Französische übersetzt, und er übersetzte auch Kent‘s ‚Lectures on Llomoepathic Phiosophy. Und diese neue französische Edition ist wunderbar sie ist wirklich viel besser als Kents Original in Englisch!

Es ist darin absolut nichts geändert worden. Die Sprache macht aber das W erk klarer die Sätze fließen besser

 

Wissen Sie, einer könnte eine Schule der Homöopathie nur mitfolgenden Werken eröffnen:

 

Hahnemanns  Organon‘

'Theorie der Homöopathie‘ von Kent,

Repertorium von Kent

Materia medica von Kent und

‚Die chronischen Krankheiten‘ von Hahnemann.

 

Diese Bücher allein sind das ‚Herz‘ der Homöopathie.

 

Pierre Schmidt hat dann zur ‚Theorie der Homöopathie‘ noch sehr viele gute Kommentare hinzugefügt. Dieses Buch ist unentbehrlich zum Stu­<hium der Homöopathie. Die französische Übersetzung war so gut, daß ‘<lt sie als Grundlage für die Übersetzung ins Deutsche übernahm. Dieser ist eben der Text, den wir jetzt da brauchen“.

 

lost Künzli: Das Schicksal hatte ihm das große Glück und zugleich die in rnense Verantwortung beschert, einer der treuesten Schüler Pierre sh tnidts zu werden. Er übernahm das ganze Erbe von Hahnemann, Kent timl Pierre Schmidt zur Überprüfung in seiner langen Praxis.

1 >er langjährige Umgang mit Dr. Künzli erlaubt mir zu verstehen, was mcm Lehrer an der „Theorie“ von Kent wertvoll fand, was er kritisierte tiuid was er in seinen Vorlesungen „wegließ“, weil es zu „Spekulationen“ \u8218‚m laß gab.

 

l:s ist mir daher ein Anliegen und auch einer der Hauptgründe dieses iirwortes, die wortvvörtliche Meinung von Dr. Künzli aus verschiede­‘in Quellen, Aufsätzen, bzw. Tonbandaufnahmen, bezüglich dieses II crkes wiederzugeben.

Anläßlich des Todes von Pierre Schmidt schrieb er (7):

 

XXXV

Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe

„Einesteils hatte ich Kapitelfür Kapitel der Kentschen Vorlesungen zum Vortrag vorzubereiten. Beginn mit Kapitel 1. Einige Abende in der Woche konnte ich dann um 20.00, 20.30 zu ihm kommen und ihm das Kapitel vortragen und zwar in Französisch. Die Kapitel jedoch waren in engli­scher Sprache. Er verlangte gleich, ich müßte auch sofort noch Stenogra­phie lernen. Ich tat, was ich konnte. Sicher sind die ersten Kapitel noch recht dürftig ausgefallen. Aber interessiert hat mich die Materie unge­heuer Schon vom ersten Kapitel ‚Der Kranke‘ an.

 

Das war nun echte Homöopathie durch und durch.

 

Ich erkannte, wie alles, was ich bisher gelernt und gesehen hatte, recht oberflächlich gewesen war und recht weit von dem entfernt, was Hahne­mann so eindringlich empfohlen hatte.

 

Hier wurde ganz aufHahnemann abgestellt, hier wurde Hahnemann als der erkannt und anerkannt, der der Medizin neue Horizonte eröfftzet hatte. Kein Zweifel und Zögern mehr, sondern volle Annahme seiner Lehre bis in alle Details. Und damit natürlich ein ganz anderes Herantre­ten an den Kranken, mit ganz anderen Erfolgen.

 

Hahnemanns und I<ents strengeForderungen haben mir ungeheuer impo­niert.

 

ich bin ja Sohn eines homöopathischen Arztes und Enkel eines homöopa­thischen Arztes.

 

Aber hier war Homöopathie ganz anders, als ich sie erlebt hatte. Viel zwingender, viel sicherer und umfassender Ich war richtig begeistert.“

 

Weiter unten heißt es im selben Aufsatz (7):

 

“Die klaren, eindeutigen Gesetze und Richtlinien Kents, die ganz aufHah­nemann aufgebaut sind, haben mir in der Praxis viel geho~fen. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mich auf diese Fährte geführt hat. Wie viele suchen und pröbeln ihr ganzes Leben lang, um am Lebensende viel­leicht endlich zu klareren Erkenntnissen zu kommen - oder auch nicht. Wie dankbar kann man sein, wenn man gleich von Anfang an festen Grund unter den Füßen hat. Denn nur so können wahre Fortschritte erfol­gen, während andere ihr Leben lang im Nebel wandeln ....

 

Auf diese Weise bin ich in meiner Praxis dann deutlich noch näher zu Hahnemann gekommen. Kent war zum Studium Hahnemanns auf z T recht schlechte englische Ubersetzungen angewiesen.

 

Hahnemanns reicher Schreibstil dürfte für ihn aber sicher nicht so leicht durch und durch klar gewesen sein. So läßt sich verstehen, daß Kent in

 

XXX VI

einigen Punkten nicht vertritt, was Hahnemanns Ansicht war Und das meine ich, wenn ich obiges schreibe.“

 

Wie man sieht eine vorsichtige, aber deutliche Kritik anKents Werk. Er wird weiter unten klarer werden.

 

Was für ein Glück es bedeutet, von Anfang an den richtigen Weg zu fin­den, zeigt folgender Brief eines Lesers (8) des obigen Aufsatzes.

 

„Lieber Dr Künzli,

 

Was für ein wunderschönes Gefühl hinterließ in mir dies, was Sie in Ihrem Artikel geschrieben haben! Wie wahr - wie wahr! Die spezielle Bemer­kung, die Sie auf Seite 255 machten hat mich so hart getroffen, daß ich in Tränen - trotz meiner 72 Jahre - ausgebrochen bin, in richtige 1>iinen!

 

Ja, in der Tat gehöre ich zu denen, von welchen Sie schrieben: ‚So viele su­chen ihr ganzes Leben hindurch und gewinnen eine Klarsicht der Dinge erst in hohem Alter, wenn überhaupt‘ ... usu~.

 

Sie sind in der Tat sehr glücklich gewesen, von Anfang an auf dem richti­gen Pfad geführt worden zu sein - es war Ihr Schicksal, Ihr Karma, wie die Buddhisten sagen würden -‚ und Ihre Dankbarkeit in der Erkenntnis dieser Tatsache hat mich sehr beeindruckt.

 

Ich wäre Ihnen sehr gerne begegnet, ich kann leider zur Zeit nicht reisen, wenn es mir aber möglich sein wird, werde ich Sie sicher besuchen und es <us ein großes Privilg ansehen, eine Person Ihres Kalibers gekannt zu ha­l)i‘fl.

 

Vor der Versammlung des Schweizerischen Vereins homöopathischer rzte im Jahre 1990 sagte Dr. Künzli unter anderem (9):

 

Ich basiere ganz genau auf dem Aufbau des Organons‘und ganz ge­<‚au auch aufderKentschen ‚Philosophy~ denn Kent hat ja seine Vorlesun­~eu auch ganz auf dem ‚Organon‘ aufgebaut. Er hatte vor sich auf dem I‘<,Ii das ‚Organon‘ aufgeschlagen und darin einen Paragraphen gelesen «od dann die Exegese dieses Paragraphen gegeben. Es beruht also ganz ~uuau auf dem ‚Organon‘. Und darum kann man eben vieles, was in der Ii <nischen ‚philosophy‘ enthalten ist, auch heute noch nehmen. Es hat Ka­~‘t lvi darin, die behalten ewig ihre Gültigkeit. Auch wenn Sie sie in tau-<‘od Jahren lesen, werden sie noch genauso gültig sein wie heute. Und liese Kapitel haben wir in Zürich beibehalten.“

 

Is waren folgende Kapitel:

 

1)1 )as Krankenexamen

 

2) 1 >er Wert der Symptome

 

XXXVII

Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe

3) Die homöopathische Verschlimmerung

 

4) Prognose aus der Reaktion auf die erste Gabe

 

Zu diesem letzten Kapitel Dr. Künzli:

 

Das ist nun ein sehr, sehr schönes Kapitel, vielleicht das schönste in

der ganzen Kentschen Philosophie.

Da sind 12 Reaktionen, die man beobachten kann. Das ist heute auch

noch ein b~fichen weiterentwickelt worden, aber diese 12 Reaktionen, das

ist der Grundstock, an denen läßt sich nicht herumdoktern ...„

5) Die zweite Verschreibung.

 

Diese Kapitel machten das Kernstück seiner Zürcher Vorlesungen aus.

 

Die ersten Kapitel der,, Theorie“über die mehr philosophischen Aspekte

 

erwähnte er in seinen Vorlesungen nie, da er vor allem praktische Ge­sichtspunkte für eine korrekte Therapie besprechen wollte.

 

Dr. Künzli war sehr nüchtern, er hat sich immer, wie Hahnemann, aus­schlielMich an Tatsachen und Beobachtungen gehalten.

 

Nicht einverstanden war er auch mit der übertriebenen Bedeutung, die

den Geistes- und Gemütssymptomen in der „Philosophy of Homoeopa­thy“ beigemessen wird (10):

 

„Und schließlich geht aus dem Werk ganz klar hervor, daß Kent den auf fallenderem, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen und Symptomen den allerersten Platz in der Rangordnung der Symptome zuweist, nicht den Geistes- und Gemütssymptomen, und darin genau Ha hnemann folgt. Das ist von enormer praktischer Bedeutung. Wird das mqiachtet, erleidet die Homöopathie wieder einmal Sch~fjbruch, wie schon geschehen. Es ist eine Fehlinterpretation Kents, wenn man die Gemütssymptome an die Spitze tut. Die Wurzel dazu liegt in der ‚Philosophy~ wo der berühmte Satz ‚the mmd is the key to the man‘ steht.“

An anderer Stelle (11) schreibt er:

 

» Wie schon bei Hahnenuznn (Organon, S 153) nachzulesen ist und wie Kent es eindeutig auch wieder angibt, sind die auffallenderen, sonderli­chen, eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome Spit­zenreiter in der Hierarchie der Symptome.

Erst an zweiter Stelle kommen dann die Geistes- und Gemütssymptome.

Es ist ein Irrtum, wenn nmn diese ganz nach vorne stellt, was z.B. in

Deutschland sehr beliebt ist, und was auch die südamerikanische Schule

so eindeutig macht.

 

XXXVIII

Dieser Irrtum stammt z.T aus einer Fehlinterpretation Kents, die heute, nachdem die ‚Minor Writings‘ erschienen sind, nun korrigiert werden

kann.

In diesen nimmt Kent ganz eindeutig Stellung (3 b).Aus diesem Licht her­aus erscheint nun auf einmal klar, daß auch in der »Philosophy“ diese

Hierarchieordnung bewahrt ist:

Das Kapitel XXXI, Charakteristika‘, geht eindeutig ganz alleine voraus,

dann erst folgen die Kapitel XXKJI-XXXJII, ‚Der Wert der Symptome‘.

In der Zürcher Vorlesung (9) interpretiert er den Paragraphen 211 des

 

»Organon“, der oft falsch verstanden wird:

 

Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome ist eine Irrmeinung verbreitet. Viele halten die Gemütssymptome für die wichtig­sten, dabei bezeichnet Hahnemann ausdrücklich die auffallenden Sym­ptome als die wichtigsten. Die Geistes- und Gemütssymptome sind keines­wegs die wichtigsten Symptome, sondern sie sind manchmal so etwas wie das Zünglein an der Waage.

Hören Sie, wie Hahnemann sich ausdrückt. Im ‚Organon‘ spricht er zu­erst über die Gemüts- und Geisteskrankheiten, und sagt dann im Para­graphen 211:

Dies geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels, der Gemütsszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt, als Zei­chen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann ...

Das gibt oft den Ausschlag!Bei einem Fall sind sie im Zweijel und denken z.B., das könnte entweder Su~fur oder Nux vomica sein. Aber der Geistes-und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr verschieden; dann gibt eben der Gemütszustand den Ausschlag, entweder für SuU‘ur oder für Nux vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als letztes schauen Sie den Patienten an: Wie schätzen Sie seinen Gemütszustand ein? Ist er ein Melancholiker, ist er phlegmatisch usw? Aufgrund dessen entscheiden sie sich vielleicht für ein Mittel und lassen ein anderes fallen, das diesem Gemütszustand nicht entspricht.

Die Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die höchste Stelle. Das

müssen sie sich unbedingt merken!

Wenn sie nämlich den Gemütszustand als Wichtigstes nehmen, besteht die Gefahr, daß sie ganz gewöhnliche Geistes- und Gemütssymptome aujZi­sten und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler wird häufig begangen:

es werden einfach viele Geistessymptome entweder am Computer oder

XXXIX

Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe

von Hand zusammengestellt; dann wird nach diesen Symptomen ein Mit­tel bestimmt, ohne auf die anderen Symptome zu achten. Das geht ganz daneben, auf diese Art und Weise werden Sie kein Simillimum finden! So geht es nicht. Die Geistes- und Gemütssymptome stehen unbedingt erst an zweiter Stelle ...„

 

Wie man sieht, hat Künzli immer wieder versucht, Klarheit zu schaffen bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome bei der Hierarchisierung. Grund genug, seine Worte sehr ernst zu nehmen.

 

Ein weiterer Punkt, den Künzli in der „Theorie“ kritisierte, ist die fal­sehe Auslegung der Wertigkeit der Symptome im Repertorium. (1 a)

 

Die Wertigkeit der Symptome erklärt sich nicht durch die Häufigkeit des Auftretens desselben während der Arzneimittelprüfung, sondern darin, wie oft ein Symptom klinisch verifiziert wurde.

 

Z.B. das Symptom „Hochmut“ von Platina ist nur bei einem Prüfer auf­getreten, aber dieses Symptom wurde dann klinisch viele Male veri­fiziert, somit steht Platina dreiwertig beim Symptom „Hochmut“ (siehe

12).

 

Künzli hat sich von Kent auch bezüglich Auslegung der Psoratheorie distanziert.

 

Er hat sich strikt an die Aussagen Hahnemanns im Band 1 »Chronische Krankheiten“ (13) gehalten, wobei er speziell Wert auf die Liste der Symptome der „latenten“ und der „manifesten Psora“ legte. Anhand eines Aufsatzes im Jahre 1964 (14) hatte er schon auf die Wichtigkeit dieser Symptomenlisten hingewiesen.

 

Das Kapitel „Sykosis“ erweiterte er beträchtlich durch das Sammeln des ganzen Materials von Hahnemann über Kent und £H.Allen (15). Er stellte, wie Hahnemann es für die Psora getan hatte, eine ziemlich voll­ständige Liste der verschiedenen Stadien der Sykosis zusammen und publizierte sie erstmals (16).

 

Es gäbe bestimmt andere Punkte im vorliegenden Werk, die man ge­nauer unter die Lupe nehmen und kritisieren könnte; aber die für die Praxis wesentlichste Fehlinterpretation Kents besteht, wie gesehen, in der übertriebenen Gewichtung der Geistes- und Gemütssymptome, was die heutige Homöpathie, wie schon erwähnt, auf gefährliche Pfade ge­führt hat. Es schien mir daher berechtigt, vor allem diesen Aspekt zu be­leuchten, so daß jeder, der sich mit diesem Werk beschäftigt, sich auch kritisch seine persönliche Meinung bilden kann.

 

XL

Diese punktuelle Kritik an den »Lectures „ von Kent kann jedoch die im­mense Bedeutung dieses Mannes für die Entwicklung der Homöopathie nicht im geringsten angreifen. Damit dies nochmals deutlich zum Aus­druck kommt, sei ein weiteres Zitat von Künzli aus dem oben erwähn­ten Interview (6) angeführt:

 

»Sie haben während des Kongresses in Washington und San Francisco gesehen, wieviel Konfusion dort geherrscht hat. Es war schrecklich zu hören, was da alles im Namen der Homöopathie erzählt wurde. Wenn man ein Zentrum oder Institut gründen möchte, müßte man eine ganz klare Methode haben, und ich sehe nur eine solche: dies ist Kent‘s Me­thode. Man mi.ß die Prinzipien, die uns Kent gegeben hat, ganz genau lernen.

 

Es herrscht zuviel Unklarheit über das, was unter Homöopathie zu ver­stehen ist.

 

Hahnemann ist perftkt logisch, klar, ko hä re nt gewesen. Es ist kein Platz für Interpretationen oder eigene Meinungen.

 

Alles, was Kent so schön später formulierte, ist in den Schriften Hahne­manns alles schon formuliert. Das eine fließt harmonisch in das andere über.

 

Wenn man Homöopathie akzeptiert, akzeptiert man automatisch, was Hahnemann uns gelehrt hat, und sobald man soweit ist, gibt es keine Dis­kussion mehr darüber, ob man Kent akzeptiert oder nicht.

 

Wenn einer denkt, er könne nach Belieben dies oder jenes verwerfen -nur aus Sympathie oder Antipathie - beweist das, daß er das Wesent­liche in der Homöopathie nicht verstanden hat. Wenn einer Kent mei­stert, was reine Homöopathie ist, dann kann er auch andere Dinge ver­suchen, wenn er will: Wenn aber einer diese Methode meistert, wird er sehen, daß er kein Bedürfiiis mehr hat, anderes zu probieren! Er wird hei dieser reinen Homöopathie bleiben, davon bin ich überzeugt. Leute, die Kent nicht akzeptieren und nicht nach seiner Methode praktizieren, da bin ich mir sicher, haben seine Methode nicht begriffen. Und sie haben sie nicht begriffen, weil sie sich nicht die Zeit genommen haben, sie genau zu lesen. Wenn sie sie lesen würden, müßten sie sie verstehen! Sie kritisieren Kent, ohne zu wissen, was sie sagen, da bin ich sicher. Ich glaube kaum, daß diese Leute jemals ein Buch von Kent geöffnet haben. Wenn jemand mit dem Wort ‚Kentianer‘ anfängt, um diese reine llomöopathie zu kritisieren, weiß ich sofort, daß sie Kent nicht kennen.

 

XLI

Vorwort zur Neuausgabe

Und so kritisieren sie auch Hahnemann‘ weit sie das ‚Organon‘ nie ge­lesen haben.“

Orselina, 1.1.1996

Dr. Spinedi Dario

Vorwort zur Neuausgabe

 

 

1) „Zur Theorie der Homöopathie“ J. T. Kents Vorlesungen über Hahnemanns Organon, übersetzt von Jost Kiinzli von Fhnmelsberg, Verlag Grundlagen und Praxis

1 a) a. a. 0. Seite 292-294

2) J.T. Kent, „La science et l‘afl de l‘homoeopathie“ traduction par le Dr. Pierre Schmidt, Maisonneuve, 57 Sainte llufflne, France, 2 e Edition 1969

3) Kent~s Minor Writings on Homoeopathy, compiled and edited by Maus-Hen­ning Gypser, M.D., Karl F Haug Publlshers . Heidelberg 1987

3a) „The trend ofthoughts necessary for Übe comprehensior and retention ofho­moeopathy“ TRS (Transaction of the Society of Homoeopathicians), 1 (1911)

17-23

3b) „The view for successful prescribing“ HPS (Homoeopathician), 1 (1912)

140-143

3 c) »Series in degrees“ HPC, 2 (1912) 77-79

4) „Swedenborg und Kent. Über den Einfluß von Emanuel Swedenborg auf die homöopathische Philosophie des James Tyler Kent“. ZELl, 39 (1995) 1, Seite 23

4a) ZKH, 39 (1995) 1, Seite 25

4b) ZKIH, 39 (1995) 1, Seite 26

5) „Editorial“ ZKH, 31 (1987) 6, Seite 222

6) Main Naud~, »Interview with Dr. Jost Künzll from St. Gall, Switzerland, du-

ring bis brief visit to San Francisco to attend the International Homeopathie

Congress“. Homoeotherapy. San Francisco, San Diego, Ecinatas, Dallas. 1

(1974), issue 1, page 3-7

7) »Wie Herre Schmidt die Homöopathie lehrte“. ZKH, 31 (1987) 6, Seite 255

8) Aus dem Nacblaß von Dr. J. Kimzli von Fiminelsberg

9) Zitiert nach: Dario Spinedi, „Laudatio zum Tode von Dr. Jost Kftnzli von Fimmetsberg“. In: Franz Swoboda (Hrsg.): Documenta Homoepathica, Band 12. Verlag IV Maudrich, Wien, München, Bem 1992. Seiten 7-74

10) »Kent‘s Minor Writings on Homoeopathy“ ZKH, 1 (1988) 1, Seite 3711.

11) „Zur hierarchischen Stellung der Geistes- und Gemütssymptome“ ZKH, 33 (1989) Seite l6off.

12) Einführung von Künzli zum Kent - Repertorimn, Band 1, neu übersetzt und herausgegeben von Dr. med. Georg von Keller und Dr. med Künzll von Fim­melsberg. Karl F. Haug Verlag, Heidelberg, 3. Auflage 1979

13) Samuel Hahnemann, Chronische Krankheiten, Band 1, unveränderter Nach­druck der Ausgabe letzter Hand mit einem Vorwort von Jost Künzli von Fim­melsberg, Organon-Verlag, Berg am Starnberger See 1983

14) „Hahnemanns Psoratheorie, anhand der Entwicklung einer chronischen Krankheit illustriert“. ZKH 8 (1964) 195-204

15) J. Henry Allen, M.D., »The Chronic Miasm“: Psora and Pseudo-Psora, Vol­ume 1, Second Indian Edition, Roy & Company, Princess Street, Bombay (In­dia) 1960

16) »Die Sykosis“, Deutsches Journal für Homöopathie, Verlag Barthel & Barthel, New-York, Jahrgang 1983, Seiten 6o-65/146- 153/258-264

XLII

P. Schmidt, J. Künzli, und T. P. Paschero; Liga-Kongreß in Brüssel 1972

 

 

 

 

 

.

Von Heike Kron zur Verfügung gestelltes Interview mit Dr. Spinedi

   Interview mit Dr. Spinedi am 14. September 2000   

 

K.:       Dr. Spinedi, wie verläuft ein typischer Arbeitsalltag bei Ihnen?

S.:            Aufstehen um 6 Uhr 10, Frühstücken, in die Klinik, 7 Uhr Telefonate bis 8 Uhr (A.d.V.: telefonische Sprechstunde), dann kommt die Sekretärin mit der Korrespondenz, es wird studiert, einfach die Telefonate des Morgens, die Briefe, nachher gibt es noch Telefonate um 10 Uhr bis 11 Uhr. Und um 11 Uhr kommen dann alle Assistenten bis 12 Uhr und präsentieren dann tagtäglich alle Fälle von der Klinik. Am Nachmittag nachher gibt es eine oder zwei Kontrollen oder eine Neuaufnahme für die Klinik und dann am Abend wird ausgewertet. Und wenn man nachhause kommt und die Kinder schlafen, bereitet man die Seminare vor (A.d.V.: der jüngste Sohn, 7 Jahre alt, der sechs Kinder, wartet am Abend bis der Papa kommt, auch wenn es spät wird, weil er nur vom Papa ins Bett gebracht werden möchte).

 

K.:       Ist das nicht sehr streng?

S.:        Ja, streng ist es schon.

 

K.:       Haben Sie einen Ausgleich, bei dem Sie Kraft schöpfen können?

S.:        Ja, das ist mal der alltägliche Spaziergang (A.d.V.: Dr. Spinedi joggt meist in der Mittagspause und macht Liegestütze...) und ein bisschen Arbeit im Garten, sehr reduziert aber seit der Klinik und das, und dann ein bisschen mit der Familie.

 

K.:       Wie viele Ärzte arbeiten mit Ihnen zusammen ?

S.:        Sechs Ärzte.

 

K.:       Wie viele Patienten können Sie maximal aufnehmen ?

S.:        Von den Räumlichkeiten her könnten wir 30, aber so vom optimalen her so 12 Patienten.

 

K.:       Hat jeder Arzt seine eigenen Patienten?

S.:            Jawohl, jeder Arzt hat eigene, sowohl ambulante, wie auch klinische Patienten. Das heißt, wenn ein Arzt die Patienten aufnimmt, nachher betreut er sie weiter und ich supervidiere nur, oder helfe ein bisschen mit.

 

K.:       Wie lange bleiben die Patienten im Durchschnitt in der Klinik ?

S.:        Im Durchschnitt 2-3 Wochen.

 

K.:       Und was kostet ein Tag in der Klinik ? Die Patienten müssen ja selber zahlen?

S.:        Man muss rechnen im Durchschnitt, wenn ich mich nicht täusche, 200-250 Franken für die Klinik, für die Hotellerie und man muss rechnen ungefähr 100 Franken für Arztkosten, Visiten und Studien im Durchschnitt pro Tag.

 

K.:       Welche Untersuchungen führen Sie in der Klinik selber durch ?

S.:        Wir versuchen so wenig wie möglich Untersuchungen zu machen, weil die Leute eben selber zahlen müssen und die meisten Patienten sind ja überdiagnostiziert, aber wir machen mal eine Blutsenkung oder Dinge, die vielleicht wichtig sind, um den Verlauf zu beurteilen oder eine akute Diagnose zu stellen, aber nicht so viel Labor.

 

K.:       Welche Zusatztherapien werden in der Klinik angeboten ?

S.:        Keine anderen (A.d.V.: Anamnese, Mittelgabe täglich in Q-Potenzen) . Ich meine, es gibt schon physikalische Therapie, Bäder, Massage, aber sonst... Ergotherapie, wenn es nötig wäre, aber sonst keine spezielle Zusatztherapie.

 

K.:       Das heißt für die Patienten ist einmal am Tag die Visite?

S.:        Einmal am Tag die Visite und wenn es nicht so gut geht, dann gibt es noch ein Gespräch am Abend mit mir persönlich oder mit dem betreffenden Arzt.

 

K.:            Empfehlen Sie eine spezielle Ernährung bei Krebs ?

S.:        Die Ernährung ist natürlich schon wichtig. Ich habe nicht eine spezielle im Kopf, aber sie müsste eine ballastreiche Ernährung sein. Im Grunde genommen mehr prophylaktisch bevor man den Krebs bekommt. Wenn man Krebs hat, dann in fortgeschrittenen Stadien, die Patienten ertragen oft nur ganz leichte Dinge und so muss man sich anpassen. Manche Patienten können nicht mal eine leichte Suppe essen, nicht mal einen Pudding, nicht ? Und da können wir nicht von Ernährung reden, es geht um Feuer löschen, dass sie wieder zum Leben finden. Nachher ist die Ernährung schon wichtig im Aufbau. Wir haben nicht eine spezielle da, aber die ist schon wichtig.

 

K.:       Sind Sie von der gleichzeitigen Anwendung Homöopathie und Chemo überzeugt ?

S.:        Ja, wir haben gesehen, dass wenn man es gezielt macht, wenn man nicht übertreibt mit der Chemotherapie, dass die Fälle wirklich manchmal sehr befriedigend verlaufen. Fälle, wo der Tumor schon zu groß ist, das homöopathische Mittel greift nicht mehr so an und wenn man eine niedrig dosierte Chemo macht und daneben ein gutgewähltes homöopathisches Mittel, dann sieht man doch erstaunliche Dinge manchmal. Es ist noch nichts Definitives, es ist noch viel zum Forschen. Wir haben allerdings genug Fälle, wo dieses Prozedere befriedigend war.

 

K.:       Und wenn die Patienten nur Homöopathie wollen ? Laufen die auch zur Zufriedenheit oder muss man dem Patienten irgendwann sagen, es ist doch besser, wenn sie noch Schulmedizin machen?

S.:        Also, wenn wir sehen, dass der Fall fortgeschritten ist, fangen wir mit Homöopathie an und dann wenn wir sehen, dass es nicht so anspricht, wie wir wünschen, sprechen wir mit dem Patienten, bis er das auch einsieht.

 

K.:       Haben Sie eine Statistik gemacht, wie vielen Patienten man helfen kann ?

S.:        Wir haben noch keine saubere Statistik. Es braucht einen Statistiker und wir sind irgendwie überfordert.

 

K.:            Nehmen Sie an der Berliner Studie teil, die von Claudia Witt geleitet wird ?

S.:        Nein, wir haben nicht mitgemacht. Wir haben ein bisschen Angst vor allem, was uns Zeit wegnimmt, weil es ist ein zu großer Andrang von Patienten und wir sind in großer therapeutischer Not, wir sind immer am Handeln. Es braucht eine Person von außen, die das organisiert und irgendwie  uns hilft.

 

K.:            Welchen Patienten kann man wirklich nicht helfen ? Kann man das vorher sehen, aufgrund des Krnakheitsbildes ?

S.:        Ich meine es gibt so fortgeschrittene Zustände, wo man schon ahnt, dass man nicht mehr viel machen kann. Wir haben schon Dinge gesehen, die erstaunlich waren. Hirntumoren, wo man dachte, man kann nichts mehr machen und sie haben so gut auf Homöopathie angesprochen. Deswegen man soll vorsichtig sein mit zu negativer Auswertung.

 

K..       Man kann es eigentlich nicht vorhersagen...

S.:        Man sollte zuerst anfangen zu therapieren und sehen, wie es anspricht.

 

K.:       Kent und Künzli gaben ja strenge Grenzen vor, wen oder was empfehlen Sie, um darüber hinauszugehen, welche Ansätze halfen Ihnen noch besser und schneller auf das Simillimum zu kommen ?

S.:        Ich muss sagen, prinzipiell halten wir uns an Kent und Künzli und Hahnemann und immer mehr, je mehr die Zeit vergeht und die Ansätze, die uns eben jetzt wirklich in der Klinik helfen, ist der Ansatz, den wir jetzt im Seminar besprochen haben, dass wir überrascht waren, wie viele wertvolle Symptome aus dem Unbewussten kommen, dass rührt daher, dass diese Kranken zwischen Leben und Tod stehen und so irgendwie sie sind bemüht, um diese Entwicklung und deswegen kommen vielleicht auch so viele Träume und so viele Dinge aus dem Unterbewussten. Wegen dem vielleicht. Und das ist auch eine große Hilfe in der Klinik. Deswegen kam dieses Seminar, das muss auch geprüft werden über lange Zeit hinweg. Aber schon jetzt sind wir sehr zufrieden, was man da sieht.

 

K.:       Gibt es noch andere neue Erkenntnisse nach diesen ersten Jahren in der Klinik ?

S.:        Die Überraschung, dass manchmal ganz verzweifelte Fälle gut werden. Und je mehr wir uns an die Prinzipien von Hahnemann und Kent und Künzli nähern, umso besser werden die Verläufe. Das ist die Erkenntnis.

 

K.:       Haben Sie mal eine Hitliste von Mitteln aufgestellt, die in der Klinik am meisten verwendet werden ?

S.:        Die habe ich in Bad Imnau vorgestellt, die ist ungefähr dieselbe.

 

K.:       Sie haben mal einen Fall gebracht, als Beispiel für die Individualität des Krebses, gibt es da noch andere konkrete Beispiele, die Ihnen jetzt in den Sinn kommen ?

S.:        Wie meinen Sie das ?

K.:       Zum Beispiel, dass der Tumor radiäre Linien hat oder blau ist oder solche Sachen, worauf die Kollegen, die in der Klinik arbeiten, die nicht so in der homöopathischen Krebstherapie geschult sind, worauf sie mehr achten könnten.

S.:        Ich hätte jetzt nicht speziell andere Zeichen oder Hinweise, wo ich sagen würde aufgrund dieses Lokalsymptomes (A.d.V.: gäbe er ein Mittel), ich habe es nicht im Sinn jetzt, vielleicht gibt es andere Zeichen, aber der blaue Knoten ist das Auffälligste. Und vor allem, weil mir damals Künzli bei einer Frau mit einem blauen Knoten Carbo empfahl und ich es gab mit großem Erfolg und ich sah, wie relevant diese Rubrik ist, deswegen gebe ich die quasi als eine Standardrubrik weiter. Andere solche Dinge habe ich kaum gesehen. Immer die Totalität. Das ist selten, dass das Lokale wirklich uns das Mittel anzeigt, da in der Klinik.

 

K.:       Es gibt ja doch viele Ärzte, die früher in den studentischen Arbeitskreisen Homöopathie gelernt haben und die jetzt in der Klinik sind und vielleicht  auch gerne etwas in die Klinik hineintragen würden und mit der Homöopathie da weiter machen würden, das ist aber meist sehr schwierig. Gibt es da eine Empfehlung, wie man da anfangen kann.

S.:        Da gibt’s keine Abkürzungen. Man muss sich mit der Materie gründlich auseinandersetzen.

 

K.:            Glauben Sie, dass diese kombinierte Therapie von Chemo und Homöopatie bei Krebs ein Übergangsstadium darstellt bis man noch etwas Besseres gefunden hat ? Ist das so eine Hoffnung? Oder glauben Sie, dass dies schon das Beste ist, um Krebs zu therapieren ?

S.:        Ich glaube, dass, es wird, das beste wird sein, wenn man die optimale, minimalste Chemotherapie gefunden hat in Verbindung mit Homöopathie. Die minimalste Chemotherapie in Verbindung mit Homöopathie, ich glaube dort wird man die größte Sicherheit erreichen und therapeutischen Effekt. Ich sage nicht, die reinste und beste theoretische Form. Aber die Effektivste. Weil ich bin sicher, wenn man ein ganz absolutes Krebsmittel finden würde, könnte man vielleicht auch einen Krebs behandeln ohne Chemo, vielleicht. Aber das ist selten.

 

K.:       Aber das war schon die Hoffnung am Anfang der Klinik ?

S.:        Wir haben es versucht. Aber wir haben gesehen diese Mittel Conium und Condurango und diese Dinge so organotrop die bringen nicht so viel. Und die Möglichkeit, dass man nicht das Richtige gibt ist groß und dann verliert man die Patienten, hingegen aufgrund der Totalität findet man ein gutes Mittel, das den Menschen als Ganzes stärkt und mit einer minimalen Chemo trifft man den Tumor. Und ich glaube, dass ist ein gängiger Weg. Die Spitäler stehen uns zur Verfügung, die Onkologen stehen uns zur Verfügung, die ganzen Sachen sind schon da. Wir brauchen nachher nur noch das gute Mittel, dass der Mensch gesund gemacht wird. Wirklich. Ja, wir sehen schöne Sachen in dieser Hinsicht.

 

K.:       Eine persönliche Frage: Wie sind Sie zur Homöopathie gekommen ?

S.:        Ah, da müsste ich mich ganz genau zurückbesinnen.

K.:       Gibt es kein Schlüsselerlebnis ?

S..        Diese Schlüsselerlebnisse, also...es ist so, dass ich suchte einfach Alternativen zur Schulmedizin. Ich habe Anthroposophie studiert damals, nachher habe ich angefangen mit Komplexhomöopathie und las viele Bücher. Und dann sagte mir meine Frau, ich soll zur Universität nach Zürich gehen, sie hatte gelesen dort doziere ein alter Mann. Und dann bin ich gegangen am Donnerstag Abend und  ich öffnete die Türe und da stand ein alter Mann mit zwei Personen und ich dachte, das ist das falsche Zimmer und dann ging ich wieder rein, das war Dr. Künzli, zwei Zuhörer und er da vorne unbeirrt machte seine Vorlesung. Und ich hatte das Gefühl, ich lerne nicht so viel da. Aber nach zwei drei Lektionen, wo ich bei ihm war, habe ich verstanden, dass er nur ganz wesentliche Dinge sagte, die man in der Klinik sofort anwenden konnte. Und ich hatte zu dieser Zeit einen chronischen Husten, der seit drei Jahren dauerte. Ich war schulmedizinisch abgeklärt. Man hatte mir alles mögliche versucht, Naturmittel und Antibiotika, alles Mögliche, man wusste nicht, was ich habe. Und nachdem ich Dr. Künzli einige Zeit gekannt hatte, auf dem Heimweg, aufgrund eines kleinen Details, was er beobachtete. Er hat das aber nur als Vorwand genommen, sagt er mir: „Dieses Mittel hat dieses Symptom.“ Und so kam ich dann nach Hause und nahm dieses Mittel in der Zehntausend und nach 10 Sekunden hatte ich keinen Husten mehr. Ich konnte es nicht glauben. Dass das weg war. Und nach etwa 40-50 Tagen kam der Husten wieder und ich dachte jetzt wirkt sicher nicht mehr. Ich nahm es nochmals und es war wieder weg. Und so, das war ein wichtiges Erlebnis und dann diese Episode mit meiner Frau, die Sie kennen, nicht (A.d.V.: Die Frau von Dr. Spinedi bekam ihr erstes Kind per Kaiserschnitt im Spital. Als sie eine Sepsis entwickelte, fragte Dr. Spinedi bei Dr. Künzli nach, was er tun solle. Darauf sagte Dr. Künzli, er solle seine Frau samt Schläuchen und dem kleinen Baby mit nach Hause nehmen, beobachten und dann wieder anrufen. Die Ärzte im Spital standen Kopf, bezeichneten vor Frau Spinedi ihren Mann als verrückt geworden, doch sie verlangte mit schwachen Kräften nur nach dem Papier, um die Unterschrift zu geben, nach Hause gehen zu dürfen. Zu Hause war Dr. Spinedi erst ganz verzweifelt. Beobachtete seine Frau und ihm fiel auf, dass sie stets hustete, wenn die Tür auf und zu ging. Sofort telefonierte er mit Dr. Künzli, der ihm Phosphor empfahl und noch erwähnte, dass er am nächsten Tag verreisen müsste. [Anmerkung Retzek: um die Legendenbildung noch zu verstärken möchte ich auf eine andere von Spinedi präsentierte Version hinweisen: Spinedi rief bei Künzli an, was er tun sollte, die Frau läge mit Sepsis in der Klinik. "ja, dann bringen sie sie heim", "aber Herr Dr. Künzli, sie hängt an all diesen Schläuchen", "ja, dann nehmen sie die Schläuche halt mit" ......... Zuhause angekommen rief er erneut bei Künzli an, was denn nun zu tun sei, doch dieser war in der zwischenzeit auf Urlaub verreist]  Doch innerhalb eines Tages fiel das hohe Fieber und in wenigen Tagen war sie geheilt. Eine andere Frau, die das gleiche Schicksal erlebt hatte und in der Klinik geblieben war, rief nach vier Wochen an, dass es ihr so schlecht ginge. Dieses Erlebnis stärkte in Dr. Spinedi das Vertrauen zu seinem Lehrer Dr. Künzli.) und so weiter, viele Schlüsselerlebnisse nachher. das war klinische Anwendung. Und dann im Spital, ich arbeitete damals im Spital, viele Fälle habe ich gemeinsam mit Künzli gelöst. Schwere Pathologien, wo ich die Chefärzte und Oberärzte gebeten habe um Erlaubnis und diese Fälle gingen fast alle gut, muss ich sagen. Die Ärzte waren erstaunt auf den Abteilungen, so habe ich gesehen, dass da etwas spezielles passiert. Ja.

 

K.:       Kann man hoffen, dass Sie eines Tages wieder eine Supervision anbieten werden ?

S.:        Ja, das wäre schön. ja, ist schon immer ein Traum. Aber zuerst muss die Klinik noch ein bisschen weiter betreut werden. Und es gibt noch einige große Kapitel, Theorie, die man bearbeiten muss, das nächste ist die Syphilis. Und das muss man noch machen und wenn diese Sachen abgeschlossen sind, dann wird man schauen.

 

K..       Haben Sie Pläne für die Zukunft ?

S.:        Der Plan für die Zukunft ist einfach ruhig in der Klinik zu arbeiten. Und schauen, wie die Verläufe weiter gehen. Damit und hoffen, dass man eine Zusammenarbeit mit der Schulmedizin erreichen kann, aufgrund der sauberen und sorgfältigen und ruhigen Arbeit. Und dass vielen Leidenden viel Kummer und Schmerz erspart wird, weil heute, wenn eine junge Frau einen Knoten in der Brust hat, sie geht durch eine Maschinerie ohne gleichen, es ist viel Angst, viel Kummer, viel Einsamkeitsgefühl, viel Verzweiflung und wenn die beiden Methoden kombiniert, könnte man viel, viel Leiden ersparen. Weil heute eben Krebs ist eine sehr häufige Krankheit, spielt das eine große soziale Rolle und deswegen ist mein Traum, dass durch unsere Arbeit, dass wir einmal mit den Schulmedizinern das zusammen anschauen.

 

K.:       Dass ein bisschen Frieden geschlossen wird ?

S.:            Frieden. Dass wir zusammen arbeiten, dass man die Patienten dann..., dass der Onkologe automatisch sagt, ja, wir machen es mit der Homöopathie und mit unserer Methode, geht zuerst zum Homöopathen und dann machen wir weiter und so weiter, dass man sich gegenseitig berät, dass würde viel Leid ersparen.

 

K.:       Gibt es da Ansätze hier in der Schweiz, dass Onkologen schon gerne mit Ihnen zusammenarbeiten?

S..        Nicht das man bewusst zusammenarbeitet, sie akzeptieren es, der Patient sagt, ich möchte nicht den Knoten punktieren, zuerst teste ich das homöopathische Mittel und später, wenn es nicht geht, er macht seine Therapie und wir helfen uns ein bisschen gegenseitig.

 

 

 

K.:       Welche Seminare werden Sie nächstes Jahr halten?

S.:        Also, im nächsten Jahr ist eben in Salzburg das Seminar über die Syphilis im März.

Und dann in Baden bei Wien im Mai und dann weiß ich nichts anderes.

 

K.:       Bad Imnau ?

S.:        Ich weiß noch nicht, ob ich eins überspringe.

 

K..       Es ist schon sehr hart...

S.:        Es ist sehr streng, ja.

 

K.:       Sie haben früher öfter gesagt, dass die ersten Kapitel aus der Theorie von Kent nicht so wichtig seien, wie die letzten. Können sie das jetzt nach dem Seminar, das Sie jetzt gehalten haben, noch so sagen ? Sehen sie das jetzt anders ?

S.:        Das ist eine sehr gute Frage. Nachdem Tod von Dr. Künzli, habe ich sofort Frau Künzli gefragt, warum Dr. Künzli die ersten Kapitel nie brachte, die philosophischen, obwohl ich es ahnte. Er wollte uns eine ganz klare Grundlage geben, eine klinische, eine saubere, ohne Spekulationen, ganz durchsichtig, mit klaren Symptomen. Das haben wir jahrelang geübt, bis das in Blut und Knochen gegangen ist. Und ich wusste nicht recht, ob diese Kapitel vielleicht mehr Schaden als nützen der Homöopathie, aber ich konnte mir das nie richitg vorstellen. Ich dachte, ein Mensch, der die Wahrheit sucht, schreibt nicht die Hälfte Wahrheit und die Hälfte Lüge. Und so habe ich geahnt in meinem Herzen, dass dort auch ein Geist von Wahrheit ist, man muss es nur richtig verstehen und wir konnten es noch nicht so richtig verstehen. Dann kam Rajan Sankaran mit seinen Seminarien, aber auch da war noch nicht klar, nicht ? Weil man hörte gegensätzliche Meinungen, manche sagten, es hört sich gut an, aber in der Praxis wirkt nicht. Dann kam diese große Auseinandersetzung mit Vithoulkas, wo er sagte, das sei nur ein Schaden, was er da bringt. Aber ich konnte das alles nicht glauben, ich habe es gesagt im Seminar, ich habe immer gespürt, das, was Sankaran sagt wahr ist. Und es kam dieses Vorwort von Künzli zum Glück zum Buch von Sankaran, das war die Brücke zu einer neuen Dimension und ich wusste, die muss man erschließen und jetzt die Klinik hat mich in die Knie gezwungen (lacht), das heißt die Klinik da, die Krebskranken haben uns gezeigt, dass das eine ganz wichtige Dimension ist. Weil da laufen Prozesse in viel schnellerem Tempo ab, als in der Praxis und so sehen wir diese Dinge noch viel intensiver. Eben wie wichtig Geist und Gemüt ist für die Genese der Krankheiten, weil die Krebskranken, wenn wir einmal ein Thema getroffen haben, das zentral ist, sie sagen: „Ich weiß genau, das seit diesem Zeitpunkt hatte ich das Gefühl, werde ich krank.“ Das ist ein Satz, den wir oft hören. Wenn wir ein Thema finden, einen Konflikt und wir fragen, seit wann hat das angefangen: „Das hat ca. vor acht neun Jahren angefangen und ich habe gespürt, dass meine Krankheit von dort weggeht.“ das sagen so viele Leute. Dieses Wissen, diese ständige Beobachtung, hat mich dazu geführt, jetzt die ersten Kapitel auch im Seminar vorzustellen, wieder. Ich habe wieder rausgeholt, was ich vorübergehend zur Kritik gemahnt habe. Ich habe die Worte von Künzli erwähnt, was er dazu sagt. Es war eben so , wie ich heute sagte, in Europa hat man laufend Geist- und Gemütssymptome genommen ohne andere Symptome und Mittel verschrieben, wo man nicht verstanden hat warum und aus diesem Grund muss man verstehen, dieses Vorwort und was ich jetzt sage, muss man verstehen, aus der klinischen Arbeit und ich bin glücklich, dass man Kent voll wieder nehmen kann. Voll. Er hat die Wahrheit gesucht und hat wahre Dinge geschrieben von A bis Z.

 

K.:       Dr. Spinedi, haben Sie vielen Dank, dass Sie sich so spät am Abend nach einem anstrengenden Seminar noch die Zeit die Zeit für dieses Interview genommen haben.

 

 

 

Homöopathische Krebsbehandlung

Review, erschienen in der Homöopathischen Zeitschrift

Spinedi, Dario: Die Krebsbehandlung in der Homöopathie, Cheiron-Verlag, Kempten, 2. Auflage 1999, Mitschrift eines Seminars von Dr. Dario Spinedi im Juni 1997 in Bad Imnau, ISBN 3933526019

Einleitend sprach Dr. Spinedi von der Angst, die viele BehandlerInnen vor dem Krebs haben. Sie bringen daher nicht den Mut auf, einen an Krebs erkrankten Menschen homöopathisch zu behandeln. Wie kann man dieser Angst begegnen? Zum einen durch Vertrauen in die Homöopathie und zum anderen durch Wissen!

Schon Hahnemann, so Dr. Spinedi, hat in §§ 172 ff. des Organons gesagt, wie eine Krebserkrankung einzuordnen und zu behandeln sei. Am ersten Seminartag wurde jeder relevante Paragraph gelesen und von Dr. Spinedi kommentiert.

Danach stellte der Referent eine eigene Kasuistik vor. Die Patientin, erkrankt an einem Mamma-Karzinom, hatte sich zum Zeitpunkt der Erstanamnese noch nicht zur Operation entschlossen. Wohl auch aufgrund seiner damals noch nicht vorhandenen Sicherheit, so Dr. Spinedi, habe die Patientin sich schließlich doch für eine Operation entschieden. Danach kam sie in homöopathische Behandlung.
Die ehrliche Fallschilderung zeigte die Unsicherheiten und Ängste, aber auch die Freude, wenn ein Mittel gut gewirkt hat oder es der Patientin nach einem Rückschlag wieder besser ging.

Am zweiten Seminartag stellte der Referent vor allem die Arbeitsweise von Bönninghausen, Burnett, Clarke, Kent, Grimmer, Eli Jones und Schlegel vor. Am letzten Seminartag widmete sich Dr. Spinedi noch einmal Schlegel, von dem er besonders viel lernen konnte. Er fuhr fort mit Carleton und sprach schließlich über Homöopathen unserer Tage wie Dr. Horst Barthel und Dr. Cremonini, die heute aufbauend auf das Wissen und die Erfahrung der alten Meister zukünftige Therapiemöglichkeiten entwickeln.

Dr. Spinedi überzeugt durch sein fundiertes Wissen, seine Menschlichkeit, seinen Mut und sein Vertrauen in die Homöopathie. Er macht großen Mut, sich diesem schwierigen Thema zu stellen, und präsentiert Werkzeuge, auf die man in der Praxis zurückgreifen kann.

In Kürze sollen Band 2 und 3 der Reihe „Dr. Spinedi – Seminarmitschriften“ erscheinen.

Elfriede Ripper

 

 

seit Oktober 07