KHZ Band 44 5/2000, S 180-186
Die
Homöopathie im 21. Jahrhundert*
Teil 1
D. Spinedi
Zusammenfassung
Die
Homöopathie im 21 Jahrhundert ist die Homöopathie Hahnemanns und Kents. Es gibt keine beliebige Art,
Homöopath je zu praktizieren, sondern eine optimale. Wie diese aussieht,
wurde von P Schmidt und Künzli weitergegeben.
Fehler, Missachtungen und korrektes Arbeiten werden erläutert.
Nach einem Vortrag auf der
Jahrestagung des DZVHÄ am 1.6.2000 in Celle.
Schlüsselwörter
Homöopathie,
optimales Praktizieren, Künzli.
Summary
Homeopathy in 21 centuiy is the homeopathy of Hahnemann and Kent. There is no arbitrary way to practice homeopathy, but
an optimum way. How this way looks, has been passed on by P Schmidt and Künzli. Errors, disregards and correct working
are
explained.
Keywords
Homeopathy,
Optimum practicing, Künzli.
1. Einführung
Mit dem Geleitwort zum Buche „Fragwürdige Chemotherapie“ von R. Moss [15] möchte ich diesen Aufsatz anfangen:
„Dieses
Buch von Ralph Moss unterscheidet sich grundlegend von der
vorausgegangenen Literatur. Meiner Meinung nach ist es von
medizinhistorischer Bedeutung, denn es beschreibt mit treffsicherer
Genauigkeit den allenthalben sichtbar werdenden Bruch in der Medizin.
Dieser wird am weitgehenden Versagen der orthodoxen ‚toxinmolekularen‘
(mit giftigen Stoffen arbeitenden) ‚schulmedizinischen‘ Behandlung
chronischer Erkrankungen besonders deutlich.
Das
jetzt offengelegte Desaster um die toxische Chemotherapie des Krebses ist
das wichtigste Beispiel für das Versagen eines orthodoxen,
mechanistischen und unbiologischen Denkens in der Medizin.“
Weiter unten:
„Schuld
an der Kostenexplosion ohne sonderlichen Nutzeffekt tragen wesentlich die
orthodox strukturierten Leitungsgremien der Arzte, weniger die Politiker
oder die Kassenvertreter.
Für
den Bereich der Herz- und Kreislauftherapie, der Behandlung der multiplen
Sklerose, der Entkalkungsleiden, der Diabetes-Folgen und anderer Leiden
gilt dasselbe.
Dies
auch deshalb, weil die noch vorherrschende Medizin aufgrund der erwähnten
‚strukturellen Ignoranz‘ nicht zur Kenntnis nimmt, dass der lebende
Organismus eine ungeheure magnetdynamische, feldenergetische ‚Maschine‘
darstellt.
Von
der Krebsentstehung über die Ursache der MS bis hin zur Kreislauffunktion
und den zugehörigen Therapien ist die Einbringung moderner
feldphysikalischer Erkenntnisse längst überfällig.‘
Wenn
man diese Worte hört in einem modernen Buch, von Fachleuten geschrieben,
fühlt man sich zuhause. So sagt Hahnemann
im § 9 des Organons 6. Auflage [2]:
Originalia
„Im
gesunden Zustande des Menschen waltet die geistartige, als Dynamis den
materiellen Körper belebende Lebenskraft unumschränkt und hält alle
seine Theile in bewunderswürdig harmonischem Lebensgange in Gefühlen und
Thätigkeiten, so dass unser inwohnende~ vernünftiger Geist sich dieses
lebendigen, gesunden Werkzeugs frei zu dem höheren Zweck unseres Daseyns
bedienen kann.“
Erstaunlich
wie sich das „magnetdynamische, feldenergetische“ der modernen Physik
gut reimt mit der Dynamis von Hahnemann.
Dies
alles leitet über zu einem einführenden Text von Emil Schlegel [3],
geschrieben (wohlgemerkt!) 1925:
„Vorwort:
Das große Bedürfnis der Welt ist die Homöopath ie.
Ein
militaristisches Zeitalter geht unter;‘ es breitet sich aus die
Morgenröte einer friedlich gesinnten Menschheit.
So
muss auch in der medizinischen Wissenschaft jede Vergewaltigung der
organisierten Wesen aufhören.
Sie
tragen ihre Möglichkeit in sich, alles durch Mittel des Ausgleichs in
Ordnung zu bringen.
Die
Naturheilkräfte verlangen Heilighaltung ihres Bestandes und willige
Dienstfolge der Aerzte statt einer herrischen, ungeduldigen, mit dem
Messer drohenden und gewaltsam diktatorischen Herrschaft.
Viele
Menschen sehen heute schon diesen Zusammenhang ein; wenige kennen
segensreiche Auswege; die meisten Aerzte sind noch in uraltem Dogmatismus
befangen.
Aber,
dass Neues sich anbahne, ganz anderes kommen müsse, das fühlen auch
diejenigen, welche die logische Entwicklung der Heilkunde und deren
moderne Wendungen nicht begriffen haben.“
Dieser
Text steht als Einführung zu einem Kommentar von Schlegel zur
gerade damals erschienenen 6. Auflage des Organons [3].
Es ist
erstaunlich, dass bereits damals Schlegel. der ja kein direkter
Kent-Schüler war, die-
ser
großartige deutsche Arzt mit ausgedehnter philosophischer, ethischer
ärztlicher Ausbildung, der sich mit Erfolg an die Krebskrankheit
herangewagt, sich auf Kent berufen hat, um das Organon zu
erläutern.
Nach dem 3. Paragraphen dieser Organonausgabe schreibt Schlegel
Folgendes:
„Ich füge jetzt eine zusammenhängende Betrachtung von Kent
ein und widme diesem mit Hahnemann zusammen grundlegenden Homäopathen
hier einige Zeilen. James Tyler Kent wurde geboren am 31.3.1849 und
starb am 6.6.191 6.
Einer seiner Freunde sagt von ihm:
‚Seltene Intuition und Verständnis, logisches Denken und
strenge Ordnungsliebe waren seine hervorragenden Eigenschaften.
Sodass Gehorsam gegen das Gesetz und strikte Ergebenheit für
die erkannten Grundlagen selbst gegen persönliche Neigungen und
Interessen ihn bestimmten.
Im ganzen Bereich der therapeutischen Wissenschaft bestieg er
unbetretene Höhen des Schauens und war gleichfalls daheim in den
Niederungen der Einzelheiten und der angewandten Kenntnisse.
Als das schliessliche Ergebnis seines Lebens legte er in
unsere Hände die Bücher. welche für lange Zeit Führer und Waffen sein
werden um erfolgreiches und genaues Arbeiten in der Heilkunst zu
verwirklichen:
Die Materie Medica
Das Repertorium und die Krönung seiner Werke Die Lectures
ca homoeopathic philosophy Ihre Hauptstärke beruht in einer
grossen ärztlichen Erfahrung, welche durch genauen Anschluss an Hahnemann
bestimmt wurde.
Von dem vielfachen Variieren der Behandlungsart, wie es
allgemein üblich und auch von mir selbst praktisch vertreten ist, kommt
bei Kent nichts vor.
Er ist der überaus bestimmte und fleissige Nachfolger eines
grossen Entdeckers, welcher in dessen Aufstellungen das Ideal selbst
gefunden hat und auch in der Praxis dadurch Grosses erreichte.‘
Es ist daher nicht erstaunlich, wenn 60 Jahre später Künzli
Folgendes sagte [9]:
„Sie
haben gesehen während des Kongresses in Washington und San Francisco
wieviel Konfusion dort war. Es war schrecklich zu hören alles was da im
Namen der Homöopathie erzählt wurde. Wenn man ein Zentrum oder Institut
gründen möchte müsste man dann eine ganz klare Methode haben und ich
sehe nur eine solche: dies ist kent‘s Methode. Man muss die Prinzipien
die uns Kent gegeben hat, ganz genau lernen. Es ist zuviel Unklarheit
herum, was unter Homöopathie zu verstehen ist.
Hahnemann
ist perfekt logisch, klar, kohärent gewesen. Es ist kein Platz für
Interpretationen oder eigene Meinungen.
Alles
was Kent so schön später formulierte ist in den Schriften Hahnemanns
alles schon formuliert.
Das
eine fliesst harmonisch in das andere über. Wenn man Homäopathie
akzeptiert, akzeptiert man automatisch, was Hahnemann uns gelehrt hat und
sobald man soweit ist, ist keine Diskussion mehr ob man Kent akzeptiert
oder nicht. Wenn einer denkt, er könne nach Belieben dies oder jenes
verwerfen nur aus Sympathie oder Antipathie, beweist, dass er nicht das
Wesentliche in der Homöopathie verstanden hat. Wenn einer Kent meistert,
was reine Homöopathie ist, dann kann er auch andere Dinge versuchen, wenn
er will: wenn aber einer diese Methode meistert, wird er sehen, dass er
nicht das Bedürfnis hat anderes zu probieren! Einer wird bleiben bei
dieser reinen Homöopathie, ich bin davon überzeugt. Leute, die Kent
nicht akzeptieren und nicht nach seiner Methode praktizieren, da bin ich
sicher, haben seine Methode nicht begriffen, und sie haben sie nicht
begriffen, weil sie sich nicht die Zeit genommen haben sie genau zu lesen.
Wenn sie sie lesen würden, müssten sie sie verstehen! Sie kritisieren
Kent ohne zu wissen was sie sagen, da bin oh sicher. Ich glaube kaum, dass
diese Leute ein Buch von Kent jemals geöffnet haben. ~Venn jemand mit dem
Wort ‚Kentianer‘ anfängt ~m diese reine Homöopathie zu kritisieren,
.veiss ich sofort, dass sie Kent nicht kennen. .ind so kritisieren sie
auch Hahnemann, weil ~e den Organon nie gelesen haben.“
D~ese
etwas langatmige Einführung soll klar machen, dass es nicht eine
beliebige Art gibt,
-ach
der man Homöopathie praktizieren kann, ~ondern dass es eine optimale Form
der Theo-
-e und
Praxis der Homöopathie gibt.
Die
Grundlagen gibt uns Hahnemann und die effizienteste
Weiterentwicklung der Gedankengänge von Hahnemann hat uns Kent geschenkt.
II. Die
historische Dimension in der Homöopathie
Wenn
man die vielen Kontroversen, Auseinandersetzungen, Spaltungen innerhalb
der homöopathischen Welt betrachtet und analysiert, sieht man sehr
schnell ein, dass viele Fehler entstanden sind, weil man die Quellen nicht
richtig verstanden hat und weil man die historische Dimension innerhalb
der Homöopathie vernachlässigt hat; weil man eigene Phantasien in die
reine Lehre eingemengt hat.
Die
Quellen hat man oft nicht verstanden, weil die Übersetzungen in fremde
Sprachen nicht korrekt waren, weil man den Sinn verdreht hat, weil man die
Tatsachen nicht anerkennen wollte. Weil die Einfachheit der Wahrheit
manchmal „blendet“.
Als Hahnemann
Band 1 der Chronischen Krankheiten, die 2. Auflage [4] geschrieben
hatte hatte er bereits 55 Jahre geforscht und praktiziert. Und man kann Hahnemann
sicher nicht absprechen, dass er ein außerordentlich ernsthafter und
zuverlässiger Forscher war.
Es gab
immer wieder Leute, die es wagten und heute noch wagen, diesen Text
unkritisch, ungeprüft zu kritisieren, zu verwerfen, wie ein
Antiquariatswerk, das überholt ist, oder sie legen ihn dann so aus, wie
es ihnen passt mit dem Vorwand es sei alles veraltet, was da steht.
Dass
viele Homöopathen eigene Phantasien in die reine Lehre eingemischt haben,
rührte oft daher, dass man sich nicht vom Licht der Wahrheit leiten
ließ, sondern von der eigenen Eitelkeit beim Verkünden oder
Niederschreiben.
Ein
Weiser soll gesagt haben, dass der größte Kampf im Erreichen der
erhabensten Ziele in der eigenen Seele und nicht draußen geschieht.
Wenn
die eigene Seele die Wahrheit sucht, dann ist das, was man sagt und tut,
auch richtig.
Wenn
ich über die Homöopathie im neuen Jahrhundert schreibe, dann nicht, ohne
die Vergangenheit gebührend gewürdigt zu haben.
In den
vergangenen Jahren habe ich mich sehr bemüht das Werden der Homöopathie
von ihren Anfängen bis zur modernen Zeit zu verstehen. Diese Arbeit habe
ich teils in einigen Aufsätzen dokumentiert, teils in einigen
nichtpublizierten Vorträgen vorgestellt.1~
Bei
allen diesen Arbeiten ging es um die historische Entwicklung in Bezug auf
die besprochenen Themen.
Das
Resultat dieser Forschungen ist, dass die Homöopathie etwas Lebendiges
ist, was im Laufe der Zeit einem dauernden Wandlungsprozess unterworfen
war, wobei das Resultat dieser Wandlung eine stetige Besserung der Methode
erzeugte.
Es ist
bezeichnend, dass die reinere Form der Erkenntnis, wir wollen sie die
reine Lehre nennen, von bestimmten Trägern auf andere übertragen wurde.
Diese
Auserwählten haben dafür gesorgt, dass die Lehre rein blieb und in ihrer
größten Vollendung praktiziert und an die Nachfolger weitergegeben
wurde.
Außerordentliche,
herausragende Gestalten dieser Art waren in der Geschichte der
Homöopathie nicht viele und sie stellen den roten Faden der Lehre dar.
Hahnemann
war der
erhabendste.
Kein
zweiter nach Hahnemann hat, wie wir schon oben gesehen haben, wie Kent
die Homöopathie beeinflusst, weiterentwickelt und verfeinert.
Pierre
Schmidt hat
dieses ganze Wissen nach Europa zurückgebracht und während vieler Jahre
zusammen mit Künzli auf dem Kontinent verbreitet.
Wenn
man nur kurz die Wandlung überblickt, welche Hahnemann im Laufe
seines Lebens in Bezug auf seine Lehre durchgemacht hat, wird
man
einige wichtige Erkenntnisse gewinnen:
a) Die Wandlungsfähigkeit der Methode im
Laufe der Zeit, obwohl die grundlegenden Axiome
• Similegesetz
• Mittel auswirken lassen
• nie in der Besserung
wiederholen meist unverrückbar blieben
b) Die Wichtigkeit zu wissen, auf welcher
Arbeitsstufe Hahnemann sich befand, wenn man ein Werk von ihm
zitiert, weil viele Dinge, die er in einer früheren Epoche sagte, später
verlassen wurden.
c) Die Dosierung hat sich im Laufe der Zeit
dauernd verändert bis ein Höhepunkt in der Pariser Zeit erreicht wurde
mit den 0-Potenzen.
Was
ist bei Hahnemann endgültig? Seine 6. Auflage des Organonl
Künzli
äußerte sich
folgendermaßen dazu [11]:
„Die
Theorie der Homäopathie, das ist das Organon, nicht wahr. Das ist die
erste Theorie der Homöopathie gewesen vor ungefähr 200 Jahren. Das
Organon hat ja 6 Auflagen erlebt; die letzte ist posthum herausgekommen. Hahnemann
hatte sie noch selbst fertiggeschrieben; aber sie ist zu seinen
Lebezeiten nicht mehr zum Druck gekommen. Und diese 6. Auflage ist nun die
Summe seines Lebens. Man kann somit nicht mehr kommen mit Aussagen aus der
4. Auflage und sagen, Hahnemann hat dies und jenes geschrieben.
Dies hat er eine zeitlang praktiziert und dann verlassen. Er hat das ganze
Leben an der Methode herumgefeilt, und über die 6. Auflage hinaus geht
einfach nichts. Darum ist sie diejenige, auf die wir uns stützen in
Zürich.“
Das
Wesentliche, was in den Chronischen Krankheiten, Band 1, 2. Auflage [15]
geschrieben wurde, ist:
1. Die Wichtigkeit der Erkenntnis der Natur
der chronischen Krankheiten als chronische Infekte mit allen klinischen
Folgen für die
Band 44
Eugenetik und für die
Prophylaxe, welche in einem solchen Wissen impliziert sind.
2. Die große praktische Bedeutung, dass man
die Anamnese von der Geburt bis zum jetzigen Zeitpunkt erheben muss, um
Symptome nicht nur palliativ wegzubehandeln.
Allzu oft liest man Anamnesen,
die sich nur auf das Momentane beziehen, oder nur auf einen sog. „Gemütszustand“
und erlebt, dass auf Grund dieser Torsi dann verschrieben wird mit einer
folgenden palliativen, unterdrückenden Wirkung. Wir können mit der
Homöopathie ebenso unterdrücken wie mit der Schulmedizin.
3. Die Erkenntnis, dass nur gewisse Mittel
wirklich fähig sind, chronische Krankheiten zu heilen.
Er
gibt genaue Anweisungen bezüglich der Globuligröße, speziell bei der
Herstellung der 0-Potenzen, was aber von vielen Herstellern nicht genau
berücksichtigt wird.
Im
ersten Jahr in unserer Klinik erlebten wir auffallend viele
Erstverschlimmerungen bei der Anwendung der Q-Potenzen und dies führte
uns oft zu falschen Interpretationen des Verlaufs, bis wir merkten, dass
die Globuli zu groß waren. Ab diesem Zeitpunkt fingen wir an die Mittel
aus dem dritten Glas zu verdünnen und schon sahen die Verläufe ganz
anders aus. Dies nur ein kleines, aber klinisch außerordentlich wichtiges
Beispiel für die Wichtigkeit des genauen Befolgens der pharmakologischen
Regeln.
Wir
könnten noch lange über die wunderbare Bedeutung dieses Band 1 CK reden.
Ein
prophetisches Werk, das auf Jahrhunderte in die Zukunft hinausweist, und
daher so missverstanden worden ist.
Die
Anweisungen von Hahnemann in seinem endgültigen Organon, 6.
Auflage, beziehen sich vorwiegend auf die Q-Potenzen.
Immer
wieder gibt es Homöopathen, die mit CPotenzen arbeiten und dabei
Paragraphen aus
Organon
VI zitieren, die sich auf die Q-Potenzen beziehen.
Es ist
ein großer Verdienst von J. Schmidt, dass er eine textkritische
Organonausgabe geschrieben hat, in der man ganz klar die Korrekturen von
der 5. zur 6. Auflage des Organons erkennen kann.
Viele
Kollegen haben eben keinen Uberblick über die historische Dimension der
Homöopathie und können somit auch die verschiedenen Werke nicht
einordnen.
Den
modernen Trend, vermehrt zu den 0-Potenzen zurückzukehren, sehe ich mit
etwas Bedenken.
Erst
bei der zusammen mit P Schmidt durchgeführten Übersetzung von
Organon 6 ins Französische hat Künzli 1947/48 die 0-Potenzen „wiederentdeckt“.
Nach
jahrzehntelanger vergleichender Erfahrung der Hahnemann‘schen 0-Potenzen
mit den Kentschen Centesimalpotenzen hat Künzli immer wieder
betont, dass für die Mehrzahl der chronischen Langzeitbehandlungen die
Kentschen Potenzen aus verschiedenen Gründen vorzuziehen und praktikabler
seien.
Es war
Künzli, der die lndikationen ausgearbeitet hat, bei denen die
0-Potenzen den C-Potenzen vorzuziehen sind.
Künzli
hat seit der
Wiederentdeckung der 0-Potenzen stets darauf hingewiesen, dass Hahnemanns
Intention einer milden und zugleich heilkräftigen Wirkung nur solche
0-Potenzen gerecht werden, die exakt nach Hahnemanns Vorschriften
des Organons 6 hergestellt und verabreicht werden.
Leider
sieht man heute in Europa die verschiedensten Verabreichungsarten von
0-Potenzen. Es kommen manchmal Patienten in unsere Klinik mit dem
richtigen Mittel von einem Kollegen als 0-Potenz verabreicht, das aber
überdosiert gewesen war und somit eine schlechte Wirkung vortäuschte.
Dies kann für die Patienten dann verhängnisvoll sein, speziell beim
Krebs.
Wenn
wir nun Kent
betrachten, sehen wir wie im Laufe seines Lebens eine stetige Wandlung
der Methode stattgefunden hat zu immer höheren Potenzen bis zur
Entdeckung der kentschen Hochpotenzskala.
Kent
kannte nur
Organon 5. Da ist keine Rede von 0-Potenzen und somit entwickelte er die
Hochpotenzen hinauf bis zur MM.
Wenn
man die 1900 durch seine Schüler publizierte Theorie der Homöopathie [51, seine „Lectures on Homoeopathic Philosophy‘, liest,
muss man sich bewusst sein, dass Kent 16 Jahre vor seinem Tod noch
in einer frühen Stufe seiner Entwicklung stand.
In den
„Lectures“ steht noch nichts von der Kentschen Skala.
Dazu
sind viele philosophische Vorträge enthalten, welche die starke
Durchmischung der reinen Lehre mit der Swedenborgphilosophie offenbaren.
Der
SwedenborgianismUS war eine kirchliche Strömung, welcher viele der
Hauptvertreter der Homöopathie in den USA angehörten.
Dadurch
kam in die Theorie auch der Satz:
„Das
Gemüt ist der Schlüssel zum Menschen‘, was ja viele Homöopathen
veranlasste, die Geistes- und GemütssymptOme an die erste Stelle bei der
Wertung der Symptome zu stellen, was in vielen Fällen verhängnisvoll
ist.
Wie
oft musste ich nach einer genauen Analyse des Gemütszustandes meine
Mittelwahl korrigieren aufgrund von ganz einfachen körperlichen
Symptomen.
Es ist
fast die Regel in der täglichen Arbeit in der Klinik.
Die
Geistes- und Gemütssymptome sind wichtig, aber sie kommen nur an zweiter
Stelle bei der Wertung der Symptome.
KünzIi
äußerte sich
wie folgt zu diesem Problem [11]:
Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und Gemüts-symptome
ist eine lrrmeinung verbreitet. Viele halten die GemütssymptOme für die
wichtigsten, dabei bezeichnet Hahnemann ausdrücklich die auffallenden
Symptome als die wichtigsten. Die Geistes- und GemütssymptOme sind
keineswegs
die wichtigsten Symptome, sondern sie sind manchmal so etwas wie das
Zünglein an der Waage.
Hören
sie, wie Hahnemanfl sich ausdrückt. Im Organon spricht er zuerst über
die Gemüts- und Geisteskrankheiten und sagt dann im Paragraphen 211:
.Dies geht soweit, dass bei homöopathischer Wahl eines
Heilmittels, der GemütsszuStafld des Kranken oft am meisten den Ausschlag gibt,
als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau beobachtenden
Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann...
Das
gibt oft den Ausschlag! Bei einem Fall sind sie im Zweifel und denken
z.B., das könnte entweder Sulfur oder Nux vomica sein. Aber der Geistes-
und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr verschieden; dann gibt eben
der Gemütszustand den Ausschlag, entweder für Sulfur oder für Nux
vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als letztes schauen sie den
Patienten an: wie schätzen Sie seinen Gemütszustand ein‘? Ist er ein
Melancholiker ist er phlegmatisch usw? Aufgrund dessen entscheiden sie
sich vielleicht für ein Mittel und lassen ein anderes fallen, das diesem
Gemütszustand nicht entspricht.
Die
Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die höchste Stelle. Das
müssen sie sich unbedingt merken!
Wenn
sie nähmlich den Gemütszustand als Wichtigstes nehmen, besteht die
Gefahr, dass sie ganz gewöhnliche Geistes- und GemütssymptOme auflisten
und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler wird häufig begangen:
es
werden einfach viele GeistessymptOme entweder am Computer oder von Hand
zusammengestellt; dann wird nach diesen Symptomen ein Mittel bestimmt,
ohne auf die anderen Symptome zu achten. Das geht ganz daneben. auf diese
Art und Weise werden Sie kein Simillimum finden! So geht es nicht. Die
Geistes- und GemütssymptOme stehen unbedingt erst an zweiter Stelle...“
Wie
man sieht hat KünzIi immer wieder versucht, Klarheit zu schaffen
bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und GemütssymptOme t
der
HierarchisierUng. Grund genug, seine te sehr ernst zu nehmen.
Es
wird durch viele moderne Homöopathe gesündigt gegen diese mahnenden
Worte.
Wenn
es um die Anwendung des Paragraphe 211 geht, sind die vielen Hinweise von
1 Sankaran bezüglich des „Gemütszustafl
wie er
sie in seinem Buch „Das geistige Prir~ der Homöopathie“ [10]
darstellt, manchmal v großer Hilfe, was KünzIi in seinem Vorwort
diesem Buch auch entsprechend würdigt.
„Sankaran
stellte ja die Verbindung zwischen Homöopa und TiefenpsycholOgie her, was
eine Integration der m mensen Entdeckungen von Freud und seinen
Schülern die Homöopathie erlaubt.“
Es ist
erstaunlich, wie oft wir in unserer Klinik beobachten, dass nach
Verabreichung des korrekten Mittels Träume hochkommen, die dem zentralen
Problem des Patienten entsprechen und zugleich zum archetypischen
Mittelbild eine enge Ahnlichkeitsbeziehung haben. Die Psychiatrie und die
Psychotherapie der Zukunft werden sehr viel profitieren durch die
Erforschung dieser wunderbaren Zusammenhänge von Tiefen psychologie und
Homöopath ie.
Wir
verdanken es R Schmidt, der in den USA bei den engsten Schülern Kents
(Austin und Gladwin) Homöopathie studierte, dass er die
letzten Entwicklungen von Kent nach Europa herüberrettete.
Er
fügte der Theorie der Homöopathie von Kent außerordentlich
wichtige Bemerkungen hinzu. welche diese neueste Entwicklung
berücksichtigten.
Diese
Bemerkungen sind in Form von Fußnoten niedergeschrieben.
Das
Buch wurde von P. Schmidt und Künzli ins Französische
übersetzt [6].
Dieses
Werk wurde daher die Haupttheorie der Homöopathie für die Anwendung der
0-Potenzen.
Künzli
übersetzte das
Werk auch noch ins Deutsche und verwendete es als Theorie der Homöopathie
während der 15 Jahre im Rahmen der „Zürcher Vorlesung“.
Es
wurden immer nur die praktischen Kapitel gelesen:
1. Die Untersuchung des kranken
2. Die homöopathische Verschlimmerung und
die zweite Verschreibung
3. Die Wertung der Symptome
Die
mehr philosophischen Kapitel ließ er weg, weil sie zu spekulativ waren.
Künzli
dazu [9]:
‚Dr.
Pierre Schmidt und ich haben das Organon ins Französ sche übersetzt und
er übersetzte auch Kenfs Lectures on
-cmeopathic
Philosophy. Und diese neue französische tion ist wunderbar, sie ist
wirklich viel besser als das
~‘ent
Original in Englisch!
:3 st darin absolut nichts geändert
worden, die Sprache
—acht aber
das Werk klarer, die Sätze fließen besser.
ssen Sie, einer könnte eine Schule der Homöopathie er:““en
nur mit folgenden Werken:
- Organon
- Theorie der Homöopathie von Kent
-
Repertorium
von Kent
- Materia Medica von Kent und
- Die chronischen Krankheiten von
Hahnemann.
Diese
Bücher allein sind das „Herz“ der Homöopathie.
Pierre
Schmidt hat dann
viele sehr gute Kommentare zugefügt zur Philosophie der Homöopathie von
Kent.
Dieses
Buch ist unentbehrlich zum Studium der Homöopathie.
Diese
Übersetzung war so gut, dass ich sie übernahm als Grundlage für die
Übersetzung ins Deutsche.
Dies
ist eben der Text, den wir jetzt da brauchen.“
Ich
glaube mit diesen wenigen Ausführungen die Wichtigkeit der historischen
Dimension gezeigt zu haben, nicht nur für das theoretische Verständnis,
sondern für unsere tägliche praktische Arbeit, damit wir die Forderung des
Paragraphen 1 erfüllen.
Letztlich
las ich in der Zeitschrift für Klassische Homöopathie in einem Aufsatz
folgenden Satz
[17]:
„Obschon
Hahnemann mit Nachdruck dazu aufgefordert hatte, ihm in seinem
System der Heilkunst genau nachzufolgen, erfuhr die Homöopathie bereits
früh Änderungen durch Andere, z.T. geringfügiger Art — und aus dem Schrifttum Hahnemanns ableitbar, z.T. aber auch
sehr weitgehende, welche in verschiedene neuere Lehren der Homöopathie
ausmiindeten. Als bekanntere sind hier unter anderem Kent, Ortega, Masi
und Sankaran zu nennen.
Eine
sachlich fundierte Orientierung innerhalb der verschiedenen Lehren ist
deshalb eher schwierig, und die gewählte Ausrichtung wird für den
Einzelnen zur Glaubenssache.“
Man
wird verstehen, warum ich großen Wert auf das Studium der Geschichte der
Homöopathie lege. Obiger Satz allein ist schon genug, um Verwirrung zu
stiften unter den jüngeren Generationen von Homöopathen, welche noch
nicht sattelfest im Erkennen des roten Fadens sind und nicht das Glück
hatten einen Lehrer zu haben, der jahrzehntelang sauber nach der Kentschen
Methode gearbeitet hat mit erstaunlichen klinischen Resultaten.
Anmerkungen
1) „Das
Werden von J.T.Kent‘, eine Studie über die
Entwicklung von JE Kent anhand
der „Kent~s Minor Writings on Homeopathy, compiled and edited by Klaus
Henning Gypser“, im Rahmen der September-woche 1995 in Locarno
vorgetragen.
„Die Psora, eine Studie über die Bedeutung
der Psora für den klinischen Alltag anhand von Band 1 Chronische
Krankheiten, II. Auflage, von S. Hahnemann. In Baden bei Wien
vorgetragen.
„Die Sykosis“, eine Studie über die Sykosis und
ihre Beziehung zum klinischen Alltag unter Berücksichtigung der
modernen Forschungsergebnisse in der Mikrobiologie, anhand von Band 1
Chronische Krankheiten, lL Auflage, S. Hahnemann und des Buches „The
Chronic Miasm, Psora and Pseudopsora“ von J.H. Allen und des Werkes „Die
hereditären chronischen Krankheiten von Y. Laborde und G. Risch,
vorgetragen in Baden bei Wien 1996 und in Bad lmnau
Literatur
[1] GrimmerA: Cancer, its cause, prevention and
eure. In:
The
collected works of Arthur Grimmer M. D. Ed. by A. N. Currim, Greifenberg:
Hahnemaflfl International Institute tor Homeopathic DocumentatiOfl,
1996.
[2] Hahnemann S: Organen der
Heilkunst. 6. Aufl., bearbeitet und herausgegeben von Josef Schmidt.
Heidelberg: Haug, 1992.
[3] l-lahnemann S: Ordnung der
Heilkunde. Das Organen der Heilkunst, zuerst 1810 erschienen nach der
neuesten Auflage und unter Benützung von Vorlesungen weiland Professor
J. T. Kent in Chicago, erläutert von E. Schlegel. Regensburg: Sonntag,
1925.
[4] Hahnemann S: Die chronischen
Krankheiten. Bd. 1, 2. Aufl., Heidelberg: Haug, 1979.
[51 KentJ 1? Zur Theorie der Homäopathie.
J. T. Kents Vorlesungen über Hahnemanns Organen, übersetzt von Dr.
med. Jost KOnzIl von Fimmelsberg, 4. Aufl., Heidelberg: Haug, 1996.
[6] Kent J T: La science et art de lhomeopathie. 2~
EdLt., trad. par le Dr. Pierrre Schmidt, Maisoneuve 1969.
[7] Morrell P: Kents Einfluss auf
die britische Homäopathie. AHZ 2000: 245:128.
[8]
Moss R: Fragwürdige
Chemotherapie. Heidelberg:
Haug,
1997.
[9] Naudd
A: Interview with Dr. Jost Künzli from St. Gall, Switzerland, during
his brief visit to San Francisco to attend the Homeopathic International
Congress. Homeotherapy
1974; 1:3—7.
[101 Sankaran
R: Das geistige Prinzip der Homöopathie. 1. Deutsche Ausgabe, Bombay:
Homeopathic Medical Publ., 1995.
[11] Spinedi
0: Laudatio zum Tode von Dr. Jost KOnzil von Fimmelsberg. Documenta
Homoeopathica, Bd. 12, Wien—München—Bern: Maudrich, 1992.
[12]
Spinedi 0:
Die Entwicklung
der homöopathisChen Praxis seit Hahnemann. In: Homöopathie 150 Jahre
nach Hahnemaflfl, Standpunkte und Perspektiven. Hrsg. R. Appell,
Heidelberg: Haug, 1994.
[13] Spinedi D: Vorwort
zur Neuausgabe der Theorie der
Homöopathie von J. T. Kent,
übersetzt von Dr. med.
Jost Künzli von Fimmelsberg. 4.
Aufl., Heidelberg:
Haug, 1996.
[14]
Spinedi D: Die moderne Behandlung der chronischen
Krankheiten. In: ZKH 1999: 43: 131—142 u. ZKH 1999:
43:175—1 84.
[15]
Spinedi 0: Die Krebsbehandlung in der Homöopathie.
Seminarmitschrift, Bd.1, Kempten: Cheiron, 1998.
[161
Stahl M: Der Briefwechsel zwischen Samuel Hahnemann und
Clemens von BönninghauSen. Bd. 3, Heidelberg: Haug, 1997.
[17]
Wischrier M: Samuel Hahnemanns Gratwanderuflg zwischen
Vereinfachung und Verifikation. ZKH 2000; 44: 3—12 u. ZKH 2000: 44: 56—66.
Dr. Dario Spinedi
Clinica Santa Croce
CH-6644 Orselina
Fortsetzung folgt
Dario Spinedi:
Vorwort zur Neuausgabe der „Theorie der
Homöopathie“ von J.T. Kent
In der Übersetzung von Jost Künzli von Fimmelsberg
Noch
nicht Fehlerkorrigierter Scan aus dem Buch
Ohne Zweifel ist das vorliegende Werk (1) - wie Pierre Schmidt bei der Einleitung der französischen
Übersetzung desselben erwähnt (2) - bis zu unseren Tagen bei weitem die beste Theorie der
Homöopathie.
Was allerdings bis jetzt gefehlt hat, ist eine kritische
Auseinandersetzung mit diesem Buch.
Im Rahmen dieses Vorwortes kann sich die Kritik aber nicht auf alle
Punkte erstrecken, sondern nur auf einen, der wegen seiner Wichtigkeit
für die Praxis der Homöopathie spezielle Bedeutung verdient, nämlich:
die Überbewertung der Geistes- und Gemütssymptome, die Kent in
seinem Werk vorgenommen hat.
Man kann meines Erachtens Kents „Theorie der Homöopathie“
nicht kritisch gegenüberstehen, wenn man nicht ihre historische
Bedingtheit und den Werdegang ihres Autors etwas näher unter die Lupe
nimmt.
Das Buch wurde 1900 veröffentlicht, also 16 Jahren vor dem Tode Kents.
Es stellt somit nur eine
Zeitaufnahme im Werdegang des Meisters dar; Ienn Kent arbeitete
unermüdlich an der Verfeinerung seiner Methodik, ~.peziell an der
Dosierungslehre, bis zu seinem Lebensende.
Wenn man das Wirken Kents genauer studiert (3), frappiert die
Diskreanz zwischen seiner praktischen Arbeit und seinen theoretischen
Auf atzen. Bei der Analyse
aller Kasuistiken, die von Kent veröffentlicht
• 2d (3), ist mir aufgefallen, dall er sich bei
der Lösung der Fälle immer
•--ikt an Hahnemann gehalten hat, d.h. er hat meist Symptome
im Sinne n Paragraph 153 gewählt zur Mittelbestimmung; selten findet man
~tes- imd Gemütssymptome
in seinen Krankengeschichten (dasselbe
• r-inte man von den Krankengeschichten Hahnemanns und seiner
en en Schüler sagen).
• enn man hingegen seine theoretischen
Aufsätze liest, sieht man, daß
- nach Epoche andere Ansichten vertreten hat, die
in meinen Augen
XXXI
Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort zur Neuausgabe
für die Entwicklung der Homöopathie in unseren Tagen schwerwiegende
Folgen gehabt haben.
Noch im Jahre 1911, also 5 Jahre vor seinem Tode schreibt Kent in
einem Aufsatz (3 a):
„1. The centre of man is his loves
2. The second point of consideration in the study of the patient is the
intellectual functions, the reasoning faculties
3. Memory disturbances come next ...„ Frei übersetzt:
„Das Zentrum des Menschen ist das, was er liebt und haßt An zweiter
Stelle kommen die intellektuellen Funktionen, das Denken. Als nächstes
folgt das Gedächtnis.“
Es folgen dann die Allgemeinsyintome.
irgendwann im Aufsatz taucht dann die Aussage auf, daß Iiahnemann die
größte Bedeutung den auffallenderen, sonderlichen, eigenheitiichen
Symptomen gab.
Eine ähnliche Aussage trifll nian auch in den „Lectures ofhomoeopathic plzilosophy“ im berühmten Satz:
„The mihd is the key to the man.“ - „Das Gemüt ist der Schlüssel zur Person.“
Woher kommt diese Abweichung von Hahnemann, der ganz deutlich
die auffallenderen, sonderlichen, eigenheitlichen Symptome zuoberst in der
Hierarchisierung stellt?
Man muß wissen, daß Kent ein Anhänger der Swedenborg-Philosophie
war. Die Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß in den
Jahren 1888-1899 vermutet werden (4), also in der Zeit kurz vor
Herausgabe der „Theorie der Homöopathie“.
Wie man aus obigem Aufsatz von 1911 sehen kann, hat dieses
Gedankengut Swedenborgs lange bei Kern nachgewirkt.
Der Einfluß Swedenborgs ist offensichtlich:
Die hierarchische Einteilung der Psyche in die genannten drei
Niveau-stufen in Swedenborgs „Doctrine ofthe degrees“ (4 a).
Es hat also eine gewisse Uberlagerung der reinen Lehre Jlahnemanns durch
die Swedenborg-Philosophie stattgefunden und dies hat dazu geführt,
daß viele Homöopathen sich auf Kent berufend - eben den Kent der Swedenborg-Periode
-‚ den Geistes- und
Gemütssymptomen eine
XXXII
übermäßige Bedeutung beimessen. Ein Trend, der heutzutage
erschrekkende Ausmaße angenommen hat und sicher nicht der Homöopathie lfahnemanns
förderlich ist.
Ich sprach eben von der historischen Bedingtheit dieses Werkes, warum?
Was sagte Kern ein Jahr später, 1912, in einem weiteren sehr
schönen Aufsatz (3b):
„Hahnemann‘s teaching has never been improved upon. We must be
guided by the syxnptoms that are strange, rare, and pecullar. How shall
wedothis?
By first ftxing in mmd what symptoms are common, then it will be easy Io discover what symptoms are uncommon,
on, in other words, strange, rare, peculiar.
Common symptoms are such as are pathognomonic of diseases and of
~iathology, and such as are common to many remedies and are found in arge
rubric in our repertories
Es sei mir die Ubersetzung dieses sehr wichtigen Abschnittes erlaubt:
„Die Lehre Hahnemanns ist bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt
unüber 1 ‚offen.
Die auffallenderen, seltenen, sonderhchen Symptome müssen ‘ins bei der Mittetwahl führen. Wie
sollen wir dies tun?
Zuerst müssen wir uns darüber klar werden, welche Symptome
gewöhnlich sind, dann wird es leicht sein, die ungewöhnlichen Symptome
tu entdecken.
Gewöhnliche Symptome sind pathognomonische Symptome für die
betreffende Krankheit und solche, die vielen Mitteln gemeinsam sind und iii den großen Rubriken unserer
Repertorien gefunden werden ....
Jetzt sind wir wieder bei Hahnemann. Kern hat auf einem Umweg
dank seiner Praxis wieder zurück zu Hahnemann gefunden. Es besteht
vollkommene Ubereinstimmung zwischen dem alten Kent und Hahne mann.
Aber was für Konsequenzen hat dies für uns? Wenn wir die Lehre Kerns
studieren wollen, dann müssen wir vor allem auch die Schriften aus
sei„en letzten Lebensjahren berücksichtigen.
Konkret bedeutet dies, daß nebst der „Theorie der Homöopathie“
von Itent auch seine „Minor Writings“ (3) studiert
werden müssen, um den Meister wirklich zu verstehen.
Bei Hahnemann triffi dies auch zu. Es würde doch keinem in den Sinn
kommen, mit der ersten Auflage des „ Organon“ zu
praktizieren. Man studiert die letzte, die 6. Auflage, das letzte
Testament des Meisters und nicht irgendeinen Zwischenschritt seiner
Entwicklung.
Die Zwischenschritte sind wichtig, um den Werdegang zu
verstehen, aber sie sind nicht der Maßstab für die praktische Arbeit.
Dasselbe gilt auch für die Entwicklung in der „Kentschen
Skala“. In „Theorie der Homöopathie“ findet sich nirgends die Lehre
der „Kentschen Skala“, weil er diese damals noch nicht
kannte.
Durch unglaubliches Arbeiten und Experimentieren an
tausenden von Patienten entwickelte Kent, offenbar auch durch Swedenborg
inspiriert (4b), seine berühmte Skala, welche besagt, daß die
Potenzen dann am besten wirken, wenn sie in folgender Reihenfolge
verabreicht werden:
3o, 2oo, M, XM, LM, CM, DM, MM.
In einem Aufsatz aus den „Minor Writings“ (3c)
sieht man sehr schön, wie Kent
zu dieser Skala gekommen ist.
Das Schicksal des Werkes Kents ist,
zumindest für den mitteleuropäischen Raum an zwei Namen geknüpft,
nämlich:
Pierre Schmidt und Jost Künzli von
Fimmelsberg.
Pierre Schmidt lernte Homöopathie bei zwei
Schülern Kents,Austin und Gladwin, in den USA (5), er konnte
somit die Entwicklung Kents bis zu dessen Tod an der Quelle und
unverfälscht erfahren.
Es war Pierre
Schmidt bewußt, daß die „Lectures“ ein
unvollständiges Werk war. Er fügte somit zahlreiche Bemerkungen hinzu,
welche die neueste Entwicklung Kents berücksichtigen sollten, z.B.
die Bemerkung bezüglich der Kentschen Skala und andere mehr, welche für die Praxis sehr relevant sind.
Daher auch der Satz im Vorwort von Künzli „... auf den heutigen Stand der
Wissenschaft“.
Letzthin traf ich einen Kollegen, der sich eine
Neuherausgabe der „Lectures“ von Kent ohne die
Kommentare von Pierre Schmidt gekauft hatte und mich fragte, wie man denn die Mittel verabreichen solle,
es stehe ja nichts im Buche von Kent. Ich riet
ihm, dieses Buch mit den Kommentaren von Pierre Schmidt
zu kaufen, dort stehe unter anderem auch die Kentsche Skala.
Zurück zu den Quellen!
- ein viel gebrauchtes Wort heutzutage - ist schon gut, aber man sollte zu den richtigen Quellen zurückgehen und nicht don
stehenbleiben, wo der Meister erst auf halbem Wege ist.
In einem Interview anläßlich des Ligakongresses in
Washington 1974 (6) äußerte sich Künzli folgendermaßen zur "Theorie der Homöopathie“:
„Dr Pierre Schmidt und ich haben das ‚Organon‘
ins Französische übersetzt, und er übersetzte auch Kent‘s ‚Lectures
on Llomoepathic Phiosophy . Und diese neue französische Edition ist wunderbar sie ist wirklich
viel besser als Kents Original in Englisch!
Es ist darin absolut nichts geändert worden. Die
Sprache macht aber das W erk klarer die Sätze fließen besser
Wissen Sie, einer könnte eine Schule der Homöopathie
nur mitfolgenden Werken eröffnen:
Hahnemanns ‚Organon‘
'Theorie der Homöopathie‘ von Kent,
Repertorium von
Kent
Materia medica von Kent und
‚Die chronischen Krankheiten‘ von Hahnemann.
Diese Bücher allein sind das ‚Herz‘ der Homöopathie.
Pierre Schmidt hat dann zur ‚Theorie der Homöopathie‘ noch sehr viele gute Kommentare hinzugefügt. Dieses Buch ist
unentbehrlich zum Stu <hium der Homöopathie. Die französische Übersetzung war so gut, daß ‘<lt
sie als Grundlage für die Übersetzung ins Deutsche übernahm. Dieser ist eben der Text, den wir jetzt da
brauchen“.
lost Künzli: Das Schicksal
hatte ihm das große Glück und zugleich die in rnense Verantwortung
beschert, einer der treuesten Schüler Pierre sh tnidts zu werden. Er
übernahm das ganze Erbe von Hahnemann, Kent timl Pierre Schmidt
zur Überprüfung in
seiner langen Praxis.
1 >er langjährige Umgang mit Dr. Künzli erlaubt mir
zu verstehen, was mcm Lehrer an der „Theorie“ von Kent wertvoll fand, was er
kritisierte tiuid was er in seinen Vorlesungen „wegließ“, weil es zu
„Spekulationen“ \u8218‚m laß gab.
l:s ist mir daher
ein Anliegen und auch einer
der Hauptgründe dieses iirwortes, die wortvvörtliche Meinung von Dr. Künzli
aus verschiede‘in Quellen, Aufsätzen, bzw. Tonbandaufnahmen, bezüglich dieses II crkes wiederzugeben.
Anläßlich des Todes von Pierre Schmidt schrieb
er (7):
XXXV
Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe
„Einesteils hatte ich Kapitelfür Kapitel der
Kentschen Vorlesungen zum Vortrag vorzubereiten. Beginn mit Kapitel 1.
Einige Abende in der Woche konnte ich dann um 20.00, 20.30 zu ihm kommen
und ihm das Kapitel vortragen und zwar in Französisch. Die Kapitel jedoch
waren in englischer Sprache. Er verlangte gleich, ich müßte auch
sofort noch Stenographie lernen. Ich tat, was ich konnte. Sicher sind
die ersten Kapitel noch recht dürftig ausgefallen. Aber interessiert hat
mich die Materie ungeheuer Schon vom ersten Kapitel ‚Der Kranke‘ an.
Das war nun echte Homöopathie durch und durch.
Ich erkannte, wie alles, was ich bisher gelernt und
gesehen hatte, recht oberflächlich gewesen war und recht weit von dem
entfernt, was Hahnemann so eindringlich empfohlen hatte.
Hier wurde ganz aufHahnemann abgestellt, hier wurde
Hahnemann als der erkannt und anerkannt, der der Medizin neue Horizonte
eröfftzet hatte. Kein Zweifel und Zögern mehr,
sondern volle Annahme seiner Lehre bis in alle
Details. Und damit natürlich ein ganz anderes Herantreten an den
Kranken, mit ganz anderen Erfolgen.
Hahnemanns und I<ents strengeForderungen haben mir
ungeheuer imponiert.
ich bin ja Sohn eines homöopathischen Arztes und Enkel
eines homöopathischen Arztes.
Aber hier war Homöopathie ganz anders, als ich sie
erlebt hatte. Viel zwingender, viel sicherer und umfassender Ich war
richtig begeistert.“
Weiter unten heißt es im selben Aufsatz (7):
“Die klaren, eindeutigen Gesetze und Richtlinien
Kents, die ganz aufHahnemann aufgebaut sind, haben mir in der Praxis
viel geho~fen. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß es mich auf diese
Fährte geführt hat. Wie viele suchen und pröbeln ihr ganzes Leben lang,
um am Lebensende vielleicht endlich zu klareren Erkenntnissen zu kommen - oder auch nicht. Wie dankbar kann man
sein, wenn man gleich von Anfang an festen Grund unter den Füßen hat.
Denn nur so können wahre Fortschritte erfolgen, während andere ihr
Leben lang im Nebel wandeln ....
Auf diese Weise bin ich in meiner Praxis dann deutlich
noch näher zu Hahnemann gekommen. Kent war zum Studium Hahnemanns auf z T
recht schlechte englische Ubersetzungen angewiesen.
Hahnemanns reicher Schreibstil dürfte für ihn aber
sicher nicht so leicht durch und durch klar gewesen sein. So läßt sich
verstehen, daß Kent in
XXX VI
einigen Punkten nicht vertritt, was Hahnemanns Ansicht
war Und das meine ich, wenn ich obiges schreibe.“
Wie man sieht eine vorsichtige, aber deutliche Kritik anKents Werk.
Er wird weiter unten klarer werden.
Was für ein
Glück es bedeutet, von Anfang an den richtigen Weg zu finden, zeigt
folgender Brief eines Lesers (8) des obigen Aufsatzes.
„Lieber Dr Künzli,
Was für ein wunderschönes Gefühl hinterließ in mir
dies, was Sie in Ihrem Artikel geschrieben haben! Wie wahr - wie wahr! Die spezielle Bemerkung,
die Sie auf Seite 255 machten hat mich so hart getroffen, daß ich in
Tränen - trotz meiner
72 Jahre - ausgebrochen
bin, in richtige 1>iinen!
Ja, in der Tat gehöre ich zu denen, von welchen Sie
schrieben: ‚So viele suchen ihr ganzes Leben hindurch und gewinnen
eine Klarsicht der Dinge erst in
hohem Alter, wenn überhaupt‘ ... usu~.
Sie sind in der Tat sehr glücklich gewesen, von Anfang
an auf dem richtigen Pfad geführt worden zu sein - es war Ihr Schicksal, Ihr Karma, wie die Buddhisten sagen würden -‚ und Ihre Dankbarkeit in der
Erkenntnis dieser Tatsache hat mich sehr beeindruckt.
Ich wäre Ihnen sehr gerne begegnet, ich kann leider
zur Zeit nicht reisen, wenn es mir aber möglich sein wird, werde ich Sie
sicher besuchen und es <us ein
großes Privilg ansehen, eine Person Ihres Kalibers gekannt zu hal)i‘fl. „
Vor der Versammlung des Schweizerischen Vereins
homöopathischer rzte im Jahre 1990 sagte Dr. Künzli unter anderem
(9):
Ich basiere ganz genau auf dem Aufbau des ‚ Organons‘und ganz ge<‚au auch aufderKentschen ‚Philosophy~
denn Kent hat ja seine Vorlesun~eu auch ganz auf dem ‚Organon‘
aufgebaut. Er hatte vor sich auf dem I‘<,Ii das
‚Organon‘ aufgeschlagen und darin einen
Paragraphen gelesen «od dann die Exegese dieses Paragraphen
gegeben. Es beruht also ganz ~uuau auf dem ‚Organon‘. Und darum kann
man eben vieles, was in der Ii
<nischen ‚philosophy‘ enthalten ist, auch heute noch nehmen. Es hat
Ka~‘t lvi darin, die behalten ewig ihre Gültigkeit. Auch wenn Sie sie in
tau-<‘od Jahren lesen,
werden sie noch genauso
gültig sein wie heute. Und
liese Kapitel haben wir in Zürich beibehalten.“
Is waren folgende Kapitel:
1)1 )as Krankenexamen
2) 1 >er Wert der Symptome
XXXVII
Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe
3) Die homöopathische Verschlimmerung
4) Prognose aus der Reaktion auf die erste Gabe
Zu diesem letzten Kapitel Dr. Künzli:
Das ist nun ein sehr, sehr schönes Kapitel, vielleicht
das schönste in
der ganzen Kentschen Philosophie.
Da sind 12 Reaktionen, die man beobachten kann. Das ist
heute auch
noch ein b~fichen weiterentwickelt worden, aber diese
12 Reaktionen, das
ist der Grundstock, an denen läßt sich nicht
herumdoktern ...„
5) Die zweite Verschreibung.
Diese Kapitel machten das Kernstück seiner Zürcher
Vorlesungen aus.
Die ersten Kapitel der,, Theorie“über die
mehr philosophischen Aspekte
erwähnte er in seinen Vorlesungen nie, da er vor allem
praktische Gesichtspunkte für eine korrekte Therapie besprechen wollte.
Dr. Künzli war sehr nüchtern, er hat sich
immer, wie Hahnemann, ausschlielMich an Tatsachen und
Beobachtungen gehalten.
Nicht einverstanden war er auch mit der übertriebenen
Bedeutung, die
den Geistes- und Gemütssymptomen in der „Philosophy
of Homoeopathy“ beigemessen wird (10):
„Und schließlich geht aus dem Werk ganz klar hervor,
daß Kent den auf fallenderem, sonderlichen, eigenheitlichen Zeichen und
Symptomen den allerersten Platz in der Rangordnung der Symptome zuweist,
nicht den Geistes- und Gemütssymptomen, und darin genau Ha hnemann folgt.
Das ist von enormer praktischer Bedeutung. Wird das mqiachtet, erleidet
die Homöopathie wieder einmal Sch~fjbruch, wie schon geschehen. Es ist
eine Fehlinterpretation Kents, wenn man die Gemütssymptome an die Spitze
tut. Die Wurzel dazu liegt in der ‚Philosophy~ wo der berühmte Satz ‚the
mmd is the key to the man‘ steht.“
An anderer Stelle (11) schreibt er:
» Wie schon bei Hahnenuznn
(Organon, S 153)
nachzulesen ist und wie Kent es eindeutig auch wieder angibt, sind die
auffallenderen, sonderlichen, eigenheitlichen (charakteristischen)
Zeichen und Symptome Spitzenreiter in der Hierarchie der Symptome.
Erst an zweiter Stelle kommen dann die Geistes- und
Gemütssymptome.
Es ist ein Irrtum, wenn nmn diese ganz nach vorne
stellt, was z.B. in
Deutschland sehr beliebt ist, und was auch die
südamerikanische Schule
so eindeutig macht.
XXXVIII
Dieser Irrtum stammt z.T aus einer Fehlinterpretation
Kents, die heute, nachdem die ‚Minor Writings‘ erschienen sind, nun
korrigiert werden
kann.
In diesen nimmt Kent ganz eindeutig Stellung (3 b).Aus
diesem Licht heraus erscheint nun auf einmal klar, daß auch in der
»Philosophy“ diese
Hierarchieordnung bewahrt ist:
Das Kapitel XXXI, Charakteristika‘, geht eindeutig
ganz alleine voraus,
dann erst folgen die Kapitel XXKJI-XXXJII, ‚Der Wert
der Symptome‘.
In der Zürcher Vorlesung (9) interpretiert er den
Paragraphen 211 des
»Organon“, der oft falsch verstanden wird:
Bezüglich der Wertigkeit der Geistes- und
Gemütssymptome ist eine Irrmeinung verbreitet. Viele halten die
Gemütssymptome für die wichtigsten, dabei bezeichnet Hahnemann
ausdrücklich die auffallenden Symptome als die wichtigsten. Die
Geistes- und Gemütssymptome sind keineswegs die wichtigsten Symptome,
sondern sie sind manchmal so etwas wie das Zünglein an der Waage.
Hören Sie, wie Hahnemann sich ausdrückt. Im ‚Organon‘
spricht er zuerst über die Gemüts- und Geisteskrankheiten, und sagt
dann im Paragraphen 211:
Dies geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines
Heilmittels, der Gemütsszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag
gibt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, welches dem genau
beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann ...
Das gibt oft den Ausschlag!Bei einem Fall sind sie im
Zweijel und denken z.B., das könnte entweder Su~fur oder Nux vomica sein.
Aber der Geistes-und Gemütszustand ist bei beiden Mitteln sehr
verschieden; dann gibt eben der Gemütszustand den Ausschlag, entweder
für SuU‘ur oder für Nux vomica. Das gibt den letzten Anstoß! Als
letztes schauen Sie den Patienten an: Wie schätzen Sie seinen
Gemütszustand ein? Ist er ein Melancholiker, ist er phlegmatisch usw?
Aufgrund dessen entscheiden sie sich vielleicht für ein Mittel und lassen
ein anderes fallen, das diesem Gemütszustand nicht entspricht.
Die Gemütsverfassung gehört also absolut nicht an die
höchste Stelle. Das
müssen sie sich unbedingt merken!
Wenn sie nämlich den Gemütszustand als Wichtigstes
nehmen, besteht die Gefahr, daß sie ganz gewöhnliche Geistes- und
Gemütssymptome aujZisten und mit denen repertorisieren. Dieser Fehler
wird häufig begangen:
es werden einfach viele Geistessymptome entweder am
Computer oder
XXXIX
Vorwort zur Neuausgabe Vorwort zur Neuausgabe
von Hand zusammengestellt; dann wird nach diesen
Symptomen ein Mittel bestimmt, ohne auf die anderen Symptome zu achten.
Das geht ganz daneben, auf diese Art und Weise werden Sie kein Simillimum
finden! So geht es nicht. Die Geistes- und Gemütssymptome stehen
unbedingt erst an zweiter Stelle ...„
Wie man sieht, hat Künzli immer wieder versucht, Klarheit zu schaffen bezüglich der
Wertigkeit der Geistes- und Gemütssymptome bei der Hierarchisierung.
Grund genug, seine Worte sehr ernst zu nehmen.
Ein weiterer Punkt, den Künzli
in der „Theorie“ kritisierte, ist die
falsehe Auslegung der Wertigkeit der Symptome im Repertorium. (1 a)
Die Wertigkeit der Symptome erklärt sich nicht durch
die Häufigkeit des Auftretens desselben während der
Arzneimittelprüfung, sondern darin, wie oft ein Symptom klinisch
verifiziert wurde.
Z.B. das Symptom „Hochmut“ von Platina ist nur bei einem Prüfer
aufgetreten, aber dieses Symptom wurde dann klinisch viele Male
verifiziert, somit steht Platina dreiwertig beim Symptom „Hochmut“ (siehe
12).
Künzli hat sich von Kent auch bezüglich Auslegung der
Psoratheorie distanziert.
Er hat sich strikt an die Aussagen Hahnemanns im Band 1
»Chronische Krankheiten“ (13) gehalten, wobei er speziell Wert auf die Liste der Symptome
der „latenten“ und der „manifesten Psora“ legte. Anhand eines
Aufsatzes im Jahre 1964 (14) hatte er schon auf die Wichtigkeit dieser
Symptomenlisten hingewiesen.
Das Kapitel „Sykosis“ erweiterte er beträchtlich
durch das Sammeln des ganzen Materials von Hahnemann
über Kent und £H.Allen (15).
Er stellte, wie Hahnemann es für die Psora getan hatte, eine ziemlich vollständige
Liste der verschiedenen Stadien der Sykosis zusammen und publizierte sie
erstmals (16).
Es gäbe bestimmt andere Punkte im vorliegenden Werk,
die man genauer unter die Lupe nehmen und kritisieren könnte; aber die
für die Praxis wesentlichste Fehlinterpretation Kents
besteht, wie gesehen, in der übertriebenen
Gewichtung der Geistes- und Gemütssymptome, was die heutige Homöpathie, wie schon erwähnt, auf gefährliche
Pfade geführt hat. Es schien mir daher berechtigt, vor allem diesen
Aspekt zu beleuchten, so daß jeder, der sich mit diesem Werk
beschäftigt, sich auch kritisch seine persönliche Meinung bilden kann.
XL
Diese punktuelle Kritik an den »Lectures
„ von Kent kann jedoch die immense Bedeutung dieses Mannes für die
Entwicklung der Homöopathie nicht im geringsten angreifen. Damit dies
nochmals deutlich zum Ausdruck kommt, sei ein weiteres Zitat von Künzli aus dem oben erwähnten
Interview (6) angeführt:
»Sie haben während des Kongresses in Washington und
San Francisco gesehen, wieviel Konfusion dort geherrscht hat. Es war
schrecklich zu hören, was da alles im Namen der Homöopathie erzählt
wurde. Wenn man ein Zentrum oder Institut gründen möchte, müßte man
eine ganz klare Methode haben, und ich sehe nur eine solche: dies ist Kent‘s
Methode. Man mi.ß die Prinzipien, die uns Kent gegeben hat, ganz genau
lernen.
Es herrscht zuviel Unklarheit über das, was unter
Homöopathie zu verstehen ist.
Hahnemann ist perftkt logisch, klar, ko hä re nt
gewesen. Es ist kein Platz für Interpretationen oder eigene Meinungen.
Alles, was Kent so schön später formulierte, ist in
den Schriften Hahnemanns alles schon formuliert. Das eine fließt
harmonisch in das andere über.
Wenn man Homöopathie akzeptiert, akzeptiert man
automatisch, was Hahnemann uns gelehrt hat, und sobald man soweit ist,
gibt es keine Diskussion mehr darüber, ob man Kent akzeptiert oder
nicht.
Wenn einer denkt, er könne nach Belieben dies oder
jenes verwerfen -nur
aus Sympathie oder Antipathie - beweist das, daß er das Wesentliche in der Homöopathie nicht
verstanden hat. Wenn einer Kent meistert, was reine Homöopathie ist,
dann kann er auch andere Dinge versuchen, wenn er will: Wenn aber einer
diese Methode meistert, wird er sehen, daß er kein Bedürfiiis mehr hat,
anderes zu probieren! Er wird hei dieser reinen Homöopathie bleiben,
davon bin ich überzeugt. Leute, die Kent nicht akzeptieren und nicht nach
seiner Methode praktizieren, da bin ich mir sicher, haben seine Methode
nicht begriffen. Und sie haben sie nicht begriffen, weil sie sich nicht
die Zeit genommen haben, sie genau zu lesen. Wenn sie sie lesen würden,
müßten sie sie verstehen! Sie kritisieren Kent, ohne zu wissen, was sie
sagen, da bin ich sicher. Ich glaube kaum, daß diese Leute jemals ein
Buch von Kent geöffnet haben. Wenn jemand mit dem Wort ‚Kentianer‘
anfängt, um diese reine llomöopathie zu kritisieren, weiß ich sofort,
daß sie Kent nicht kennen.
XLI
Vorwort zur Neuausgabe
Und so kritisieren sie auch Hahnemann‘ weit sie das ‚Organon‘ nie
gelesen haben.“
Orselina, 1.1.1996
Dr. Spinedi Dario
Vorwort zur Neuausgabe
1) „Zur Theorie der Homöopathie“ J. T. Kents Vorlesungen über
Hahnemanns Organon, übersetzt von Jost Kiinzli von Fhnmelsberg, Verlag
Grundlagen und Praxis
1 a) a. a. 0. Seite 292-294
2) J.T. Kent, „La science et l‘afl de l‘homoeopathie“
traduction par le Dr. Pierre Schmidt, Maisonneuve, 57 Sainte llufflne,
France, 2 e Edition 1969
3) Kent~s Minor Writings on Homoeopathy, compiled and edited by
Maus-Henning Gypser, M.D., Karl F Haug Publlshers . Heidelberg 1987
3a) „The trend ofthoughts necessary for Übe comprehensior and
retention ofhomoeopathy“ TRS (Transaction of the Society of
Homoeopathicians), 1 (1911)
17-23
3b) „The view for successful prescribing“ HPS (Homoeopathician), 1
(1912)
140-143
3 c) »Series in degrees“ HPC, 2 (1912) 77-79
4) „Swedenborg und Kent. Über den Einfluß von Emanuel Swedenborg
auf die homöopathische Philosophie des James Tyler Kent“. ZELl, 39
(1995) 1, Seite 23
4a) ZKH, 39 (1995) 1, Seite 25
4b) ZKIH, 39 (1995) 1, Seite 26
5) „Editorial“ ZKH, 31 (1987) 6, Seite 222
6) Main Naud~, »Interview with Dr. Jost Künzll from St. Gall,
Switzerland, du-
ring bis brief visit to San Francisco to attend the International
Homeopathie
Congress“. Homoeotherapy. San Francisco, San Diego, Ecinatas, Dallas.
1
(1974), issue 1, page 3-7
7) »Wie Herre Schmidt die Homöopathie lehrte“. ZKH, 31 (1987) 6,
Seite 255
8) Aus dem Nacblaß von Dr. J. Kimzli von Fiminelsberg
9) Zitiert nach: Dario Spinedi, „Laudatio zum Tode von Dr. Jost
Kftnzli von Fimmetsberg“. In: Franz Swoboda (Hrsg.): Documenta
Homoepathica, Band 12. Verlag IV Maudrich, Wien, München, Bem 1992.
Seiten 7-74
10) »Kent‘s Minor Writings on Homoeopathy“ ZKH, 1 (1988) 1, Seite
3711.
11) „Zur hierarchischen Stellung der Geistes- und Gemütssymptome“
ZKH, 33 (1989) Seite l6off.
12) Einführung von Künzli zum Kent - Repertorimn, Band 1, neu
übersetzt und herausgegeben von Dr. med. Georg von Keller und Dr. med
Künzll von Fimmelsberg. Karl F. Haug Verlag, Heidelberg, 3. Auflage
1979
13) Samuel Hahnemann, Chronische Krankheiten, Band 1, unveränderter
Nachdruck der Ausgabe letzter Hand mit einem Vorwort von Jost Künzli
von Fimmelsberg, Organon-Verlag, Berg am Starnberger See 1983
14) „Hahnemanns Psoratheorie, anhand der Entwicklung einer
chronischen Krankheit illustriert“. ZKH 8 (1964) 195-204
15) J. Henry Allen, M.D., »The Chronic Miasm“: Psora and
Pseudo-Psora, Volume 1, Second Indian Edition, Roy & Company,
Princess Street, Bombay (India) 1960
16) »Die Sykosis“, Deutsches Journal für Homöopathie, Verlag
Barthel & Barthel, New-York, Jahrgang 1983, Seiten 6o-65/146-
153/258-264
XLII
P. Schmidt, J. Künzli, und T. P. Paschero;
Liga-Kongreß in Brüssel 1972
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