von Heli Retzek übersetzt, publiziert als: R.Logan; Cyclamen; HiÖ; 3/3; Sept.92; 78-85
Cyclamen
Robin Logan
Einleitende Zusammenfassung: Das emotionelle Bild von Cyclamen wird entwickelt. Die essentiellen Eigenschaften sind: starke Gewissenhaftigkeit, Pflichtbewußtsein, Gefühl der Verlassenheit, versteckt gehaltener Kummer, Selbstbetrachtung. Das Naheverhältnis zwischen Cyclamen und Pulsatilla wird neben den unterscheidenden Merkmalen betont.
Wir finden 5 Hauptelemente, die das Cyclamen-Bild[1] am besten umschreiben. Kombiniert man die folgenden fünf Rubriken aus dem Geistes-Gemüts-Bereich des Repertoriums, dann findet man Cyclamen als das einzige in allen Rubriken vertretene Mittel:
Gewissenhaft in Kleinigkeiten (conscientious about trifles).[2]
Wahnvorstellung, er hat seine Pflicht versäumt (delusion, he has neglected his duty).
Gefühl der Verlassenheit (forsaken feeling).
Kummer, zurückgehaltener (grief, undemonstrative).
tadelt sich selbst, Selbstvorwürfe (reproaches himself).
Es folgen nun die zentralen Elemente von Cyclamen, wie sie sich für mich darstellen:
Pflichtbewußtsein:
Die zweite Rubrik erscheint mir die zentralste zu sein. Cyclamen Patienten zeigen immer diese Charakteristik des Pflichtbewußtseins. Auch andere Mittel haben diese Eigenschaft, besonders Aurum, Lycopodium, Pulsatilla, Ignatia, Hyoscyamus und Natrium-arsenicosum. Trotzdem gibt es kein Mittel das diesen Charakter so vielfältig im Repertorium vertritt, zB:
Wahnvorstellung, er ist ein Verbrecher (delusions, he is a criminal).
er hatte ein Verbrechen verübt (he had committed a crime).
er ist angefeindet, gehindert, gequält (he is persecuted).
er hat unrecht getan (fancies he has done wrong).
er hat seine Pflicht versäumt.
Die Pflanze Cyclamen präsentiert mit gebeugtem Kopf und zurückgelegten Blättern das eindrucksvollste Bild wahrer Demut. Man kann sich leicht vorstellen daß die kleine Pflanze sagt: “Es tut mir leid, bitte vergib mir”.
Wie man es nach dem eben Angeführten erwarten würde, findet sich das Mittel in der Rubrik “Gewissensangst” (anxiety of conscience).
Dies, gemeinsam mit der “Gewissenhaftigkeit in Kleinigkeiten” ist der Ausdruck des Pflichtbewußtseins von Cyclamen. Ein derartiger Charakterzug kann sich natürlich in unterschiedlichster Art ausdrücken, aber der Cyclamen Patient wird sich sklavisch und gewissenhaft seiner Familie, seiner Arbeit oder einer anderen Person in seinem Leben widmen.
Der Grund wieso eine Person überhaupt in diesen Zustand gerät kann vielfältig und unterschiedlich sein, auch ist es ja nicht immer notwendig die Ursache aufzuklären um zum heilenden Mittel zu finden. Wir finden jedoch zwei grundsätzliche auslösende Ursachen. Es ist wichtig sich diese zu merken – und sie sind Teil von dem, was ich für die Kern-Symptomtik von Cyclamen halte. Beide Ätiologien sind eine wesentliche Hilfe um dieses Mittel von anderen, ähnlichen Mitteln zu unterscheiden.
Verlassenheitsgefühl:
Das Gefühl verlassen zu sein, eine Cyclamen-Charakteristik, ist eine der ätiologischen Ursachen. Diesem Symptom liegt auch die Ähnlichkeit Cyclamens zu Aurum, Hyoscyamus und Pulsatilla zugrunde. Das Verlassenheitsgefühl hilft Cyclamen von Lycopodium, Ignatia und Natrium muriatikum, welche in dieser Rubrik nicht vorkommen, zu unterscheiden.
Studenten fragen oft, wieso Ignatia und Natrium muriatikum, obwohl sie ‘Kummer-Mittel’ sind, nicht in dieser Rubrik aufscheinen. Verlassenheitsgefühl ist ja das “Gefühl” im Stich gelassen oder zurückgestosssen zu sein, das Gefühl nicht gewollt zu werden. Gäbe es die Rubrik “Leiden, seit er in Stich gelassen wurde”, die beiden Mittel würden dort zu finden sein, aber beide fühlen es nicht oder können dieses Gefühl nicht bewußt wahrnehmen.
Kummer
Die andere Ursache, auf die man den Fall aufbauen kann, ist Kummer. Schaut man sich die Rubrik “Leiden von Kummer, nicht gezeigtem” (ailments from grief, undemonstrative) an, findet man darin nur zwei Mittel, Ignatia und Cyclamen. Meinem Gefühl nach ist diese Rubrik zwar inkomplett, trotzdem aber sehr hilfreich.
“Stiller Kummer” (silent grief) ist anders; das ist ein Kummer der komplett unterdrückt ist und nicht ausgedrückt wird, es ist etwas, daß man in anderen, den Ignatia nahestehenden Mitteln finden könnte.
Trotzdem – die Tendenz den Kummer nur dann rauszulassen, wenn man alleine ist, oder auf eine Art, die es sicherstellt, daß man damit niemanden zu nahe zu tritt – ein mutiges Gesicht in Gesellschaft aufzusetzen – das ist eine starke Charakteristik von Ignatia und Cyclamen.
Beinhaltet ein Fall alle Grund-Symptome außer dem nichtgezeigten Kummer, wird man zwischen Cyclamen, Aurum und Pulsatilla zu differenzieren haben, da Aurum und Pulsatilla in allen anderen Rubriken vorkommen. Darum muß man über die Rubriken des Repertoriums hinausgehen und den Aurum-Zustand verstehen, einen Zustand der aus mangelndem Selbstwertgefühl herrührt. Die Aurum-Person versucht ihren Selbstwert wieder zu finden. Sie muß sich selbst beweisen, daß sie etwas wert ist, wohingegen der Cyclamen Zustand nicht so selbst-zentriert ist. Die Motivation von Cyclamen ist weniger egoistisch und eher zu anderen Gefühlen hin orientiert. Es ist ein Zustand wahrer Demut.
So wie Ignatia das weibliche Nux vomica genannt wurde, könnte man Cyclamen als weibliches Aurum bezeichnen. Bis jetzt habe ich noch keine männlichen Cyclamen-Patienten getroffen. Ein großer Unterschied zwischen den beiden ist, daß sogar im Moment tiefster Verzweiflung und Depression der Cyclamen-Patient nie über Selbstmord nachdenken wird oder den Tod in der Art sehnt wie es für Aurum in solchen Zeiten typisch ist. Man kann Cyclamen nicht in den Rubriken “Selbstmord” (suicidal), “wünscht den Tod” (desires death), “Todesahnung” (presentiment of death) oder “Todesgedanken” (thoughts of death) finden. In einem meiner Fälle war dies die einzige Möglichkeit um zwischen Aurum und Cyclamen zu differenzieren.
Abhängigkeit
Pulsatilla wird wohl öfter an Cyclamen-Patienten verabreicht als jedes andere Mittel. Cyclamen-Patienten scheinen am ehesten zwischen Pulsatilla und Natrium–muriatikum zu stehen. Sie sind weniger weich und abhängig als Pulsatilla und haben einiges von Natrium muriatikums Selbst-Genügsamkeit und Unabhägigkeit.
Der Pulsatilla-Typus ist wahrhaft abhängig, – Abhängigkeit ist eines der Kernsymptome von Pulsatilla. Cyclamen-Menschen glauben in Wirklichkeit, daß die Welt von ihnen abhängt, auf sie zählt.
Cyclamens Anwesenheit in der Rubrik “Abneigung gegen Gesellschaft, besser wenn alleine” (aversion to company, amel. when alone) ist ja nicht typisch für den Pulsatilla Zustand.
Die Pulsatilla-Pflanze bietet auch einen ganz anderen Eindruck. Zwar hat sie ebenfalls einen leicht geneigten Kopf aber der große Unterschied zeigt sich in den Blumenblättern. Anstatt zurückgelegt – wie die Ohren eines kauernden Hundes – strecken sie sich trichterförmig nach vorne, so wie ausgestreckte Arme sagen “Halte mich”.
Es wirkt eher wie die Erscheinung einer halb geöffneten jungen Blume, nur daß die Pflanze relativ alt sein muß um sich zur besser bekannte Stern-Form zu öffnen.
Selbstbetrachtung und Milde
Es gibt einen weiteren Aspekt des Cyclamen-Zustandes, der als Kern-Symptom gewertet werden kann. Es handelt sich dabei um die Selbstbetrachtung, die Introspektion.
Das erste Mal wurde mir das im Fall einer Frau bewußt, die mir regelmäßig mitteilte, daß sie immer darüber nachdenkt wie sie sich fühlt, daß sie sich fortwährend selbst analysiert.
Sie wacht jeden Tag auf und fragt sich “wie fühle ich mich heute ?”. Sie hörte damit auf, nachdem sie mit Cyclamen behandelt wurde. Cyclamen findet sich in der Rubrik “Selbstbetrachtung” (introsprection), auch in der Rubrik “in Gedanken versunken” (absorbed, buried in thought). Alle meine Cyclamen-Patienten zeigten sich als milde Personen. Von dem bis jetzt gesagten kann man sich vorstellen, daß milde Persönlichkeiten am ehesten in einen derartigen Zustand kommen.
Körperliche Charakteristika und Modalitäten
An diesem Punkt sollte man die körperlichen Symptome berücksichtigen. An welche Arznei denken Sie, wenn Sie folgende Symtome vorfinden:
Durstlosigkeit
Abneigung gegen Fett
Verschlimmerung nach Schweinefleisch
Amenorrhoe mit Anschwellen der Brüste
Nehmen Sie noch ein paar der oben genannten Geistes-Gemüts-Symptome hinzu und die Chancen des Patienten, Cyclamen zu erhalten haben sich beträchtlich verringert. Denn natürlich denkt man zuerst an Pulsatilla, aber es sind ebenso Cyclamen-Symptome. In einem solchen Fall kann die Reaktion auf frische Luft ein hilfreiches differenzierendes Symptom sein, da Pulsatilla und Cyclamen hier gegensätzliche Modalitäten aufweisen. Pulsatilla fühlt sich besser an der frischen Luft, Cyclamen schlechter.
Hierin haben wir eine wichtige und nützliche Differenzierung zwischen Cyclamen und Pulsatilla, auf die in den Schriften der alten Meister oft hingewiesen wird.
An diesem Punkt könnten sie villeicht denken, daß es egal ist, ob man Pulsatilla oder Cyclamen verabreicht, da beide Arzneien so ähnlich sind.
Nach meiner Erfahrung wird jedoch Pulsatilla in solchen Fällen manchmal etwas helfen, aber meistens passiert nichts – eine vollständige Heilung wird in einem Cyclamen Fall mit Pulsatilla nie zu erzielen sein.
Körperliche Symptome
Die vorrangige Affinität gilt dem Kopf, Magen und den weiblichen Geschlechtsorganen.
Kopf
Cyclamen kann Iris oder Kalium bichromicum ähneln, da es Kopfschmerzen mit vielerlei Sehstörungen aufweist: Flackern, Schimmern, Blitzen, Funken vor den Augen. Schwindel ist ebenfalls ein wichtiges Merkmal des Mittels: als ob sich der Raum oder Gegenstände im Kreis herumdrehen, wirbelnder Schwindel. Schwindel besser in einem Raum, schlimmer an der frischen Luft.
Man findet Katarrhe, meistens fließenden Schnupfen mit Niesen, gemeinsam mit verschiedenen Knochen- und Gelenksproblemen; die Gelenksschmerzen sind schlimmer beim Sitzen und bessern sich durch Herumgehen. Es ist auch ein Mittel gegen Akne.
Magen
Salziger Geschmack im Mund, Schluckauf, Aufstoßen, Übelkeit, Erbrechen. Abneigung gegen Fett, Abneigung gegen und Verschlimmerung durch Schweinefleisch, Abneigung gegen Butter und kaltes Essen.
Frauenbeschwerden
Profuse Menstruation, zu häufig, geronnen, schwarz. Menstruelle Migräne mit Sehstörungen, unterdrückte Menses, Anschwellung der Brüste, besonders nach der Regel.
Fallbeispiel:
Eine verheiratete Frau, geb. 20/8/1926. Sie leidet an Depressionen, Panikattacken, Verdauungsstörungen und einen wunden Mund mit ständig schlechtem Geschmack. Sie war zu nervös um alleine aus ihrer Heimatstadt anzureisen. Fühlte sich erschöpft und mutlos, beim Aufwachen am Morgen ausgelaugt und unmotiviert. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und nahm Valium schon seit mehreren Jahren. Sie hatte eine Landkartenzunge mit einer Fissur in der Mitte.
In den vergangenen fünf Jahren verlor sie ihren Ehemann, ihre Schwester und eine nahestehende Tante – und ihre Tochter hatte Probleme mit ihrer Ehe. Sie fühlte sich mit ihrem Kummer sehr allein und fand es trotzdem unmöglich, ihren Kummer mit jemanden zu teilen. So wie sie es ausdrückte, war sie sehr ärgerlich mit sich selbst in einen derartigen Zustand geraten zu sein. Sie beschrieb sich als “zu ihrem eigenen Nachteil viel zu gewissenhaft”, und als sie gebeten wurde mehr darüber zu erzählen meinte sie, sie “haßt es, andere Menschen im Stich zu lassen”. Diese Informationen erhielt ich in der ersten halben Stunde unseres Treffens und sie betrafen bereits alles, um das heilende Mittel zu finden. Trotzdem, es dauerte 2 Jahre und 30 Seiten an Notizen bevor ich den Fall richtig analysierte und Cyclamen als heilendes Mittel verabreichte.
Zwei weitere hervorstechende Eigenheiten im Leiden dieser Frau waren, daß ihre Stimmung stark schwankte und sie sich ständig selbst analysierte. Ihre ersten Gedanken am Morgen waren “wie fühle ich mich heute ?”.
Die gewählten Rubriken waren daher:
Kummer, versteckter
tadelt sich selbst
gewissenhaft in Kleinigkeiten
Wahnidee, hat ihre Pflicht versäumt
Stimmung, abwechselnde (moods, alternating)
Selbstbetrachtung
Während des ersten Jahres verabreichte ich Natrium-muriatikum in den Potenzen 1M, 10M und 50M. Es besserte ihre Verfassung jedesmal kurz, hielt aber in der Wirkung nie an und half niemals ihrem Mund. Interessanterweise paßt Natrium muriatikum nicht einmal in die oben dargestellte, korrekte Fallanalyse. Weiters erhielt sie Ignatia, Aurum, Staphisagria, Lycopodium und Acidum muriatikum. Keines der Mittel half.
Sobald sie aber Cyclamen einnahm, kam es zu einer deutlichen Veränderung. Sie begann, ihre kranke Freundin seltener zu besuchen, konnte ihr dafür aber gleichzeitig eine bessere Unterstützung zuteilen. Ihre Energien besserten sich, sie litt nicht mehr länger unter Depressionen oder Panikattacken. Sie begann erfrischt aufzuwachen, ohne dauernd nachdenken zu müssen wie es ihr geht. Die Wundheit ihres Mundes besserte sich ebenfalls.
Die Besserung schreitet fort und sie besucht mich nach wie vor, nur seltener. Ihre Probleme haben eine lange Geschichte und ich betrachte sie noch nicht als geheilt, aber sie ist durch Cyclamen ein anderer Mensch geworden.
Zusammenfassung:
Am besten kann man wohl die ausgiebigen Notizen, die ich über die Jahre aufgenommen habe als Sammlung von Zitaten wiedergeben, die die Geisteshaltung von Cyclamen aufzeigen:
“Ich hasse es Menschen im Stich zu lassen, es kann mich über Tage beunruhigen”
“Ich wünschte, ich wäre weniger mit mir selbst beschäftigt”
“Ich war emotionell immer sehr reserviert”
“Ich bin zu hart zu mir selbst; eine Freundin ließ mich kürzlich im Stich und ich begann mir dafür selbst die Schuld zuzuweisen. Ich fühlte, ich mußte etwas getan haben, das es verursachte”
“Ich habe eine Freundin die an Depressionen leidet und ich habe das Gefühl, daß es meine Pflicht ist sie täglich zu besuchen und zu unterstützen. Es laugt mich sehr aus, aber als ich nicht täglich hinging, konnte ich die Gewissensbisse nicht ertragen”
“Sie können doch Menschen nicht einfach abschreiben”
“Ich habe mir nie etwas aus Freizeitunterhaltung gemacht, denn ich wollte alles perfekt machen, aber die Umstände haben das nie zugelassen”
“Der Mann einer Freundin ist gestorben. Jetzt hab ich noch jemanden zu betreuen”
“Es fiel mir immer schon schwer nichts zu tun. Ich habe ständig diesen Gedanken im Hinterkopf, was ich noch tun sollte”
Diese Krankengeschichte ist nur eine von sieben klaren Cyclamen-Fällen, die ich bis jetzt beobachtet habe. Darunter befanden sich akute, subakute und chronische Fälle; und, so wie es mir scheint, haben sie zusammen mit dem Repertorium und dem Studium der Arzneimittelprüfungen geholfen, das Cyclamen-Bild besser verstehen zu lernen.
Die Zeitschrift The Homeopath kann unter folgender Adresse bezogen werden: Society of Homeopaths, 2 Artizan Rd., Northampton NN1 4HU, UK. Tel. 44 604 21400; Fax: 44 604 22622
Übersetzung: cand.med. Heli Retzek, Gablenzgasse 17/24, A-1150 WIEN
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